VON WOLFGANG HORN
Man stelle sich vor, hier in Deutschland, in Berlin im Kanzleramt regierte eine junge Frau von 36 Jahren. Unmöglich, nicht wahr? In Finnland, in Helsinki geht das. Dort ist Sanna Mirella Marin seit 2019 Regierungschefin sowie stellvertretende Parteivorsitzende der Sozialdemokraten. Nach Studium und Erfahrungen in der Regional- und Kommunalpolitik wurde Sanna Marin jüngste Ministerpräsidentin in der Geschichte Finnlands, mehr noch: zum Zeitpunkt ihres Amtsantritts war sie auch die jüngste Regierungschefin weltweit. Verheiratet mit einem ehemaligen Fußballprofi ist sie zudem Mutter einer vierjährigen Tochter. So weit, so gut – und so normal. In den nordischen Ländern geht, was in Zentraleuropa schlichtweg auf Granit stößt. Da fehlt die Parteiochsentour und der Nachweis von mindestens einer Million eigenhändig aufgehängter Wahlplakate. ‚Arbeite Dich erst einmal ein und dann werden wir sehen.‘ Der spitze Stein mit Kanten und Ecken wird in einer Vielzahl von parteiinternen Weiterbildungsangeboten- und Qualifikationsseminaren schön rund geschliffen, so daß er jedenfalls kompatibel ist zum vorherrschenden Politik-Mainstream. Und dann braucht das junge Juwel hierzulande auch noch das Glück, zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Aussagen an der richtigen Stelle zu sein, um gegebenenfalls Verantwortung in der Partei oder für die Gesellschaft übernehmen zu dürfen. Das gilt für nachgerade alle Parteien und ist weder sozialdemokratisches, noch konservatives Spezifikum. Jetzt haben die Finnen also diese junge und offenbar fähige Ministerpräsidentin und die kann es, mindestens den Medien, auch nicht recht machen. Was macht man, wenn man 36 ist und sich mit Freunden trifft? Man feiert, man tanzt, trinkt ein wenig, hört Musik, quatscht mit Freunden, vor allem, wenn man sich ansonsten selten sieht. Und das gilt weltweit. Überall. Im Norden, wo’s lange dunkel ist, und auch dort, wo es heiß ist und hell. Das machen Konservative ebenso wie Liberale, Grüne oder Sozialdemokraten. Das ist schlichtweg menschlich. Auch Sanna Marin hat gefeiert. Und von dieser Feier wurden ein paar Handyvideobilder geleakt. Und schon ging das Geschrei los. Drogentest. Was für ein Irrsinn. Weil es sich um eine junge Frau handelt. Wer kann sich nicht an die gelallte, hochpromillige Rede des einstigen FDP-Bundestagsabgeordneten Detlef Kleinert im Deutschen Bundestag erinnern? Google hilft. Älteren Herren ist der öffentliche Lall in der Werkstatt der Demokratie erlaubt, einer jungen Frau wird die private Feier mit nachgerade unverschämten Anwürfen vorgehalten. Was gäbe ich drum, wenn hier in Berlin meine Kanzlerin eine gut ausgebildete junge Frau wäre, die feiert, was das Zeug hält, die so menschlich bleibt, mit Freunden auch öffentlich zu tanzen, zu trinken, Musik zu hören, von der man mithin annehmen kann, sich alle menschlichen Eigenschaften bewahrt und nicht irgendeiner Partei- oder Verwaltungs- oder Politiklogik geopfert zu haben.
Beitragsfoto: CC BY 2.0 © Bernhard Ludewig