Die Diskrepanz zwischen äußerlicher Ähnlichkeit und innerer Verschiedenheit

Der Literatur- und Medienwissenschaftler Dr. Dominik Orth über Zwillinge in Literatur und Film

VON Uwe Blass

Was haben Kleopatra und Marcus Antonius, Kronprinzessin Mary und Kronprinz Frederik von Dänemark und Angelina Jolie und Brad Pitt gemein? Sie alle sind Eltern von Zwillingen. Seit rund hundert Jahren gehört die Zwillingsforschung zu einem der spannendsten Wissenschaftsfelder und wurde noch 1909 in Meyers Konversationslexikon wie folgt beschrieben: „Zwillinge: zwei zur selben Zeit in derselben Mutter reifende Früchte. Ob sie durch ein- und denselben Geschlechtsakt oder in zwei kurzen aufeinanderfolgenden gezeugt werden, ist noch nicht ausgemacht und wird wohl ein Geheimnis bleiben.“

Missbraucht durch die Forschungen im Dritten Reich wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit seriöse Zwillingskohorten aufgebaut, die inzwischen ca. 1,5 Mio. Zwillinge umfassen und zwischen 1950 und 2012 über 2748 Zwillingsstudien hervorgebracht haben. Jedes Jahr steigt diese Zahl um weitere 500 bis 1000. Schon in der Mythologie begegnen sie uns und auch die Literatur hat sich immer wieder mit ihnen beschäftigt. Im 20. Jahrhundert sind Zwillinge zusätzlich eine oft spannende Bereicherung auf der Leinwand. Dr. Dominik Orth, Literatur- und Medienwissenschaftler in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität hat mit Studierenden den Mythos Zwilling in einem Seminar untersucht und kommt auf überraschende Ergebnisse.

Ein Sturm und Drang-Drama war der Auslöser

„Die Idee entstand durch einen sehr berühmten Text mit dem Titel ´Die Zwillinge` aus dem Jahr 1776 von Friedrich Maximilian Klinger“, erzählt Orth, „ein ganz berühmtes Drama aus der Zeit des Sturm und Drang. Er hat sich mit den Zwillingen in einer Variation des Themas des Bruderkonfliktes beschäftigt.“ Zwar hätten auch Autoren wie Schiller sich dieses Themas angenommen, aber Klinger sei es gewesen, der tatsächlich Zwillingsbrüder in den Mittelpunkt gestellt habe. 

„Ich habe dann geschaut, wo dieses Zwillingsmotiv denn noch eine Rolle spielt“, fährt er fort und kommt über Kästners Doppeltes Lottchen zu einer Vielzahl aktueller Texte. „Ich war sehr überrascht, wie unglaublich oft auch gerade in anspruchsvolleren Texten aus der Gegenwartsliteratur das Zwillingsmotiv eine Rolle spielt.“ Orth findet Romane und Kurzgeschichten in vielen Independent-Verlagen und bereitet ein Studienseminar vor.

Das Zwillingsmotiv

Von einem Zwillingsmotiv könne man sprechen, wenn die vorkommenden Geschwister eine tragende Rolle spielten und bedeutsam für den Text seien, erklärt der Geisteswissenschaftler. Dabei stelle sich auch immer die Frage, ob es wichtig sei, dass die Protagonisten lediglich Geschwister oder doch eben Zwillinge sind. Letzterem käme vor allem beim eingangs genannten Klingerdrama eine besondere Bedeutung zu, denn der Konflikt des Dramas entstehe aufgrund des Erstgeburtsrechtes, welches im 18. Jahrhundert vor allem im Erbrecht von großer, existentieller Bedeutung war. „In Klingers Fall war sich der angeblich jüngere Bruder nicht sicher, ob er vielleicht nicht doch der Erstgeborene sei. Erschwerend kam hinzu, dass alle, die er gefragt hatte, sich nicht eindeutig äußerten. Das hat dem Motiv vom Bruderkonflikt einfach nochmal eine andere Nuance beigefügt.“

Das Zwillingsmotiv begegnet uns schon in der Mythologie. Aus der Liebesnacht von Zeus und Leda gehen bekanntermaßen die Zwillingen Castor und Pollux hervor. „Fast alles, was in Lexika zu Themen, Motiven und Stoffgeschichte auftaucht, hat ganz oft seinen Ursprung in der griechischen oder römischen Mythologie“, weiß Orth, „man denkt dabei auch immer an Romulus und Remus. Bei Castor und Pollux ist mir sofort der Film „Face/Off“ (Im Körper des Feindes) von 1997 mit Nicolas Cage eingefallen“ schmunzelt der Medienwissenschaftler und erzählt, „da heißen die Brüder nämlich auch Castor und Pollux. D.h. selbst in Hollywoodproduktionen wird dann auf solche mythologischen Figuren verwiesen.“ Daran sehe man auch, dass sich das Thema nicht nur in der Literatur oder Malerei, sondern auch in anderen Medien fortgesetzt habe.

Castor and Pollux

Äußere Ähnlichkeit – Innerliche Verschiedenheit

Zwillinge sehen sich oft sehr ähnlich, in der Literatur werden aber vor allem die Gegensätze hervorgehoben, konnte Orth mit den Studierenden feststellen. „Bei den meisten Zwillingstexten waren die Ähnlichkeiten äußerlicher Natur, innerlich, charakterlich, waren die immer sehr unterschiedlich.“ Das sei meistens auch eines der Hauptthemen in den Texten, diese Diskrepanz zwischen der äußerlichen Ähnlichkeit und der inneren Verschiedenheit. „Es ist dieser Konflikt, der aussagt: Ich möchte nicht so sein wie meine Schwester oder mein Bruder, aber ich sehe so aus.“ 

Das gehe dann sogar soweit, belegt Orth, dass im Roman „Flechten“ der Schweizer Autorin Barbara Schibli, wo es Zwillingsschwestern gab, die eine in der Jugend der anderen eine Narbe zugefügt habe, damit sie anders aussehe als sie. Als sie dann später Fotografin geworden sei, stellte sie in einer Ausstellung ausschließlich Bilder ihrer Schwester aus, wobei sie die Narbe immer wegretouschiert habe, so, dass man nicht wusste, ob es die Fotografin selber oder ihre Schwester sei. „Also selbst wenn Differenzmerkmale körperlich zugefügt werden, werden sie doch wieder weggenommen, um zu sagen, auch wenn wir versuchen anders zu sein, sind wir es nicht.“ 

(C) Hudson Marques (Pexels)

Charakterlich seien Zwillinge jedoch oft verschieden, konnte er mit den Studierenden in vielen Texten belegen und es sei auch spannend gewesen zu sehen, dass sich Gegensätze ja bekanntlich auch anzögen, gerade bei unterschiedlichen Geschlechtern. „Es gibt daher auch Texte, die so weit gehen, dass es auch eine Wiedervereinigung sexueller Art gibt. Das war eine interessante Erfahrung, auf die zu Anfang keiner gekommen ist, als wir uns gefragt haben, was uns bei diesem Thema erwartet. Mit Inzest hatte keiner gerechnet, aber auch das wird in Texten thematisiert.“

Ein literarischer Kunstgriff …

In der 1590 entstandenen ´Komödie der Irrungen‘ nimmt auch William Shakespeare das Zwillingsmotiv auf und verdoppelt es noch einmal, indem er den getrennten Zwillingsbrüdern je einen Zwillingsdiener zur Seite stellt. Das Zwillingsmotiv wird zu einem literarischen Kunstgriff. „Gerade für Verwechslungen ist das natürlich ein wunderbares Motiv, mit Zwillingen zu arbeiten“, weiß Orth und ergänzt das genannte Beispiel um eine weitere, 1602 uraufgeführte Komödie des Erfolgsautors. „In `Was ihr wollt’ werden die Zwillinge Viola und Sebastian getrennt. Viola glaubt, dass ihr Bruder verstorben ist, und geht dann allein ihren Weg. Sie verkleidet sich als Mann, als Cesario, und es gibt im Stück einige Verwechslungen. Sebastian hat aber überlebt, taucht später auf und wird aufgrund der Ähnlichkeit für Cesario, also seine Schwester, gehalten, was auch wieder zu Verwechslungen führt. Auch hier ist es ein literarischer Kunstgriff.“

… der sich im 20. Jahrhundert fortsetzt

Zu den bekanntesten Zwillingsadaptionen des 20. Jahrhunderts gehört Erich Kästners ´Das doppelte Lottchen`. 1949 erschien der Roman, und die zeitnahe Verfilmung belohnte 1950 den Stoff mit dem ersten Bundesfilmpreis. Das Besondere dabei sieht Orth in der „Idee, unbekannt ein anderes Leben zu führen. Das ist im Grunde genommen eine Weiterentwicklung dieses Verwechslungsmotivs. Die Verwechslungen sind ja meist ungewollt, gerade in dem genannten Shakespearebeispiel. Aber hier ist es gewollt. Die beiden Mädchen erkennen sich bei Kästner, als sie sich zufälligerweise treffen und vertauschen bewusst ihre Identitäten. Die Idee, ein anderes Leben führen zu können und nicht erkannt zu werden ist hier besonders gut gelungen.“

Erkenntnisse der Zwillingsforschung finden Eingang in die Filmkunst

Die Zwillingsforschung in Deutschland hatte in der Nazizeit grauenhafte Formen angenommen, der Aufbau einer seriösen Forschung war nach dem Zweiten Weltkrieg verständlicherweise schwierig. In Deutschland gibt es heute zwei deutsche Zwillingsgruppen. Das sind die biomedizinische Kohorte HealthTwiSt mit ca. 1500 Zwillingspaaren und ‚TwinLife‘, eine soziologisch-psychologische Kohorte mit ca. 4000 Zwillingspaaren sowie krankheitsspezifische Kohorten. Wissenschaftler der Universität des Saarlandes und der Universität Bielefeld wollen das Zusammenspiel von Erbe und Umwelt aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Ihre genannte Studie ‚TwinLife‘ ist auf zwölf Jahre angelegt und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt. Ziel ist es, herauszufinden, welche Faktoren in welchem Maße zu den schulischen Leistungen, dem beruflichen Werdegang und der sozialen Stellung eines Menschen beitragen. An der Studie nehmen 4000 eineiige und zweieiige Zwillingspaare und ihre Familien aus dem gesamten Bundesgebiet teil. Das könne nach Orths Meinung wiederum zukünftig für neuen fiktionalen Stoff sorgen, denn es habe in der Geschichte der Zwillingsliteratur schon oft Überschneidungen mit der Zwillingsforschung gegeben. 

„Ich hatte einen Gast von der TU Dresden eingeladen, Wieland Schwanebeck, der sich damit ausführlich beschäftigt hat“, erzählt er. „Er hat seine Habilitation über das Zwillingsmotiv geschrieben und herausgefunden, dass es eine enge Verknüpfung zwischen der Zwillingsforschung im 19. Jahrhundert und dem Auftauchen von Zwillingen in Krimis aus dieser Zeit gibt. Das ist echt spannend. Da kann man feststellen, dass unabhängig von der Literatur erforscht wird, wie es beispielsweise sein kann, dass der eine Zwilling zum Verbrecher wird und der andere nicht.“ Das habe auf viele Krimis Einfluss gehabt, die dann mit dem Zwillingsthema gearbeitet hätten. In der Spannungsliteratur gebe es immer wieder Zwillinge als Thema. „Auch im Fernsehen gibt es mittlerweile eine mehrteilige Dokuserie mit dem Titel Evil Twins“, und auch das belege das immer wiederkehrende Interesse an diesem Motiv.

Zwillinge als „Black-Lives-Matter“- Pflichtlektüre?

Ein aktueller Zwillingsroman über zwei Schwestern aus einer schwarzen Familie macht seit 2020 von sich reden. Darin entscheidet sich eine der beiden Zwillingsschwestern für ein Leben als Weiße. In ihrem Roman ’Die verschwindende Hälfte‘ (The Vanishing Half) spielt Brit Bennett die Idee durch. Wird da das Zwillingsmotiv zur aktuellen ’Black-Lives-Matter-Pflichtlektüre‘? 

„Ja, das denke ich schon. Es ist zwar kein deutschsprachiger Text, daher haben wir ihn in unserem germanistischen Seminar nicht gelesen, aber ein sehr aktuelles und spannendes Thema. Das Interessante ist, dass im Grunde genommen die Zwillinge gar nicht so eine große Rolle spielen. Das Zwillingsmotiv hat zwar eine wichtige Funktion, aber es geht weniger um die Zwillingsgeschwister, als um deren Kinder. Die Hautfarbe der Zwillinge, deswegen kann sich die eine überhaupt zu einem Leben als Weiße entscheiden, ist so, dass man es nicht genau sehen kann, ob sie ‚schwarz‘ oder ‚weiß‘ sind. Und die eine entscheidet sich für ein Leben als Weiße und ihr Kind ist auch weiß, während die andere zu Hause bleibt und sich, wie der Roman es beschreibt, den „schwärzesten Mann“ sucht und ein Kind von ihm bekommt, welches – das wird immer wieder betont – sehr dunkelhäutig ist. 

Es geht dann darum, was mit den Kindern passiert, denn die eine weiß gar nicht, dass sie eigentlich ‚schwarz‘ ist, da sie ja ‚weiß‘ aufgewachsen ist.“ Im Verlauf der Geschichte kommen dann die beiden Cousinen zusammen, wobei die als Schwarze aufgewachsene Tochter, die trotz aller Diskriminierung am Ende ein Medizinstudium aufnimmt, ihrer ‚weißen‘ Cousine sagt, dass sie eigentlich ‚schwarz‘ ist. Da gehe es um Identitätsfragen, und die eigentliche Absurdität von Fragen nach der Hautfarbe würden somit geschildert. „Auch hier sind die Schwestern äußerlich sehr ähnlich, charakterlich sehr verschieden und leben ihr Leben auf unterschiedlichen Ebenen.“ Die scheinbaren Zwillingsprobleme werden literarisch genutzt und quasi in die nächste Genration übertragen.

Die einzigartige Verbundenheit im Heldenepos

Luke und Leia (Star Wars), Cersei und Jamie (Game of Thrones) und Fred und George Weasley (Harry Potter) sind prominente Zwillingspärchen in der phantastischen Literatur und bilden eine ganz besondere Einheit. „Die sind mehr miteinander verbunden als andere Menschen“, sagt Orth. „Ich glaube, es ist eine Verbundenheit, die man sich als einzelner nicht vorstellen kann. Das kann man nicht lernen, das kann man nicht nachmachen. Entweder man hat dieses Band oder man hat es nicht. Das kann Fluch und Segen zugleich sein. Nahezu alle Texte, die wir im Seminar behandelt haben, haben diese Bindung zum Thema gemacht. Auch das ist ein Ursprung der Faszination an Zwillingen, weil man es nicht nachempfinden kann.“

Die Trennung eines Zwillings kann aber auch wieder Vereinigung bedeuten. Jack aus James Camerons Erfolgsfilm ‚Avatar‘ reagiert resigniert auf den Tod seines Zwillingsbruders. Mit diesem Verlust werden endgültig die Bande gekappt, die Jack noch an die Erde binden, und er kann einen Neuanfang wagen. Dass er dazu auf Pandora den ursprünglich für seinen Bruder entwickelten Avatar übernimmt, kann man auch als Wiedervereinigung beider lesen. „Das ist eine besondere Art und Weise, wie der Film das konstruiert, dass es eigentlich für den Bruder ist und er dann selbst da reinschlüpft. Kunst kann also eine solche Verbindung über den Tod hinaus verlängern. Eine weitere Art der Vereinigung ist das Motiv des Inzestes, wo es dann auch auf eine ganz andere Art durchgespielt wird. Es gibt eine Erzählung von Thomas Mann, „Wälsungenblut“, wo das eine Rolle spielt.“

Die Texte hätten ihn sensibilisiert, resümiert Orth und als Quintessenz stehe für ihn vor allem die Individualität des einzelnen Zwillings im Vordergrund, der nicht, wie in den meisten Texten, immer mit seinem Gegenüber verglichen werden will. Und dann habe das Thema schließlich noch einen privaten Bezug, verrät der Wissenschaftler zum Schluss: Orth ist vor kurzem Vater geworden; und zwar von Zwillingen.

Dominik Orth absolvierte ein Magister-Studium mit den Fächern Kulturwissenschaft, Germanistik und Geschichte an den Universitäten Bonn und Bremen. Er promovierte 2012 an der Universität Bremen. Seit 2017 arbeitet er als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Neuere deutsche Literatur in der Fachgruppe Germanistik an der Bergischen Universität.

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