VOM NUTZEN UND NACHTEIL DER GESCHICHTE IM KRIEG …

Martina Winkler ist Professorin für die Osteuropäische Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hat für zeitgeschichte | online gestern einen Kommentar zu den absurden Geschichtsklitterungen des Wladimir Putin verfaßt. zeitgeschichte|online hat dem Forum Wermelskirchen freundlicherweise das Recht zum Nachdruck des Kommentars eingeräumt:

VON MARTINA WINKLER 

Am Morgen des 24. Februar, kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, lag eine Mail der Pressesprecherin meiner Universität im Postfach: Sie rechne angesichts der Lage mit vermehrten Anfragen der Presse. Ob ich, immerhin doch Osteuropahistorikerin, als Expertin für den aktuellen Konflikt zur Verfügung stünde?

Wenn man, wie ich, seine Schwerpunkte in der Kindheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts einerseits und dem russischen 17. und 18. Jahrhundert andererseits gelegt hat, wird man mit solchen Anfragen normalerweise nicht überhäuft. Sicher, Dokumentarfilmer:innen und Podcasterinnen fragen manchmal an, aber das heute-journal oder die Tagesschau? Ungewöhnlich. Jetzt aber ist die Nachfrage groß, da kommt vielleicht auch einmal meine Chance für die prime-time.

Und eine Antwort auf die Frage, welchen Beitrag ich leisten könnte, scheint auch gleich auf der Hand zu liegen: Putins absurde Geschichtsklitterungen, das wilde Jonglieren mit der Kiever Rus, dem vermeintlichen Fehlen einer nationalen Geschichte und angeblichen sowjetischen (gemeint ist natürlich: russischen) „Geschenken“ an die Ukraine muss doch jemand aufklären. Nur so kann deutlich werden, dass Putins Versuch, der Ukraine das Existenzrecht abzusprechen, voller Fehler und damit unberechtigt ist.

Aber ist das wirklich so? Der Verband der Osteuropahistoriker*innen (VOH) hat in seiner Stellungnahme zur Rede Putins vom 21. Februar deutlich gemacht, dass das hier präsentierte Bild „… in einem krassen Widerspruch [steht] zu allen Erkenntnissen, die Historikerinnen und Historiker sowohl in Russland und der Ukraine als auch Europa und den USA in den vergangenen zwei Jahrhunderten zusammengetragen haben …“. Weitere Details folgen nicht, keine Auseinandersetzung, keine quellenbasierte Widerlegung der hanebüchenen Behauptungen. Ich halte diese Zurückhaltung für klug und richtig. Historische Debatten dürfen an dieser Stelle keine Rolle spielen. Der Angriff auf die Ukraine ist nicht deshalb falsch und inakzeptabel, weil Putin es mit historischen Fakten nicht so genau nimmt. Er wäre ebenso falsch, wenn Putin Recht damit hätte, dass die ukrainische Nation von den Bol´ševiki erfunden wurde und dass die Kiever Rus der Beginn russischer Staatlichkeit sei. Wenn wir uns in diesem Zusammenhang auf eine Diskussion einlassen, bestätigen wir Putins Ansatz, dass die Geschichte – hundert oder auch tausend Jahre zurückliegend – Gründe für eine Verschiebung heutiger Grenzen liefern darf, dass heutige staatliche Souveränität in dieser Geschichte verankert sein müsse. Um sich auszumalen, wohin uns diese Ansicht führen würde, muss man kein:e Historiker:in sein.

Martina Winkler, Professorin für die Osteuropäische Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

So nachvollziehbar es ist, dass aktuell neben politischer Analyse auch historisches Fachwissen gefragt ist, sollten wir doch vorsichtig damit sein, zu welcher Debatte wir hier beitragen. Und so verständlich (und erfreulich) der Wunsch der Öffentlichkeit ist, mehr über die Geschichte der Ukraine zu erfahren, so plädiere ich doch dafür, vor jedem Faktencheck, vor jeder Richtigstellung von Putins Behauptungen klar zu sagen, dass wir historische Zusammenhänge nicht deshalb darstellen, um die Grenzen der Ukraine zu rechtfertigen. Denn das müssen wir nicht, das tut bereits das Völkerrecht.

On the Dnieper, Kiev, Russia (i.e. Ukraine) gemeinfrei. picryl.com

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