VON WOLFGANG HORN
Freedom Day. Freiheitstag. Meiner ist heute. Einer meiner Freiheitstage jedenfalls. Einige habe ich bereits hinter mir. Heute erhalte ich meine dritte Corona-Impfung, den Booster. Die Auffrischungsimpfung. Merkwürdiges Wort, Booster. Es bezeichnet den Zusatzantrieb bei Raketen ebenso, wie, im Französischen, daß man sich in eine Topverfassung bringt.
Der Freiheitstag kann nur Freiheitstag geheißen werden, wenn er mehr Freiheit bringt, als es zuvor gab. Jede Impfung bringt jedem einzelnen zusätzliche Freiheit. Sie befreit weitgehend von der Gefahr, sich mit dem Coronavirus zu infizieren und an Covid-19 zu erkranken, womöglich in ein Hospital eingewiesen und dort intensiv behandelt werden zu müssen. Der Freiheitstag kann also nicht begangen und gefeiert werden, wenn alle Maßnahmen zur Eindämmung der Wirksamkeit des Virus aufgehoben werden, wenn noch die Pandemie herrscht und der persönliche und enge Kontakt mit Menschen die Gefahr birgt zu erkranken. Freedom Day ist erst, wenn das Coronavirus weitgehend eingedämmt, wenn Covid-19 beherrschbar ist und seinen Schrecken verloren hat.
Freedom Day ist also nicht, wenn alle Maßnahmen eingestellt werden, wie vor allem die Coronaleugner und Impfverweigerer im Verein mit Rechtspopulisten und Demokratiefeinden behaupten. Was wäre das für ein Verständnis von Freiheit? Dänemark zum Beispiel: Vor Wochen hochgelobt, weil alle Coronamaßnahmen aufgehoben worden sind. Das ging in unserem nördlichen Nachbarland nur, weil dort mit über 85% vollständig geimpften Erwachsenen eine wesentlich höhere Impfquote erreicht worden ist als etwa bei uns, im Land der Nicht-Denker und Verweigerer. Und jetzt? Die Pandemie wütet in ganz Europa derart, daß die dänische Regierung von ihren ursprünglichen Beschlüssen auf Anraten der wissenschaftlichen Experten abgerückt ist und wieder zur Verwendung von Mund-Nasen-Masken und zur Einhaltung von notwendigen Abständen auffordert. Ohne, daß sie Proteste fürchten muß, weil die Dänen ihren Eliten und auch der Regierung überwiegend mit sehr viel Vertrauen entgegentreten. Und ähnlich verhält es sich auch in den Niederlanden.
Überhaupt haben wir es mit einer Reihe sprachlicher Verirrungen zu tun. So wenig, wie der Freiheitstag Freiheit bringt, wenn nicht mehr gegen das Coronavirus vorgegangen wird, so wenig sind Maßnahmen zum gesundheitlichen Schutz der Menschen vor einer Infektion Verlust von Freiheit. Wenn Kontakte beschränkt werden oder Abstandsgebote erlassen, hat das in etwa die Qualität der Vorschrift, daß im Auto ein Gurt angelegt werden muß. Man darf auch nicht ohne Ausbildung und Prüfung Auto fahren, sondern benötigt einen Führerschein. Niemand darf an einem herumdoktern, der nicht als Arzt approbiert ist. Das Leben in einer heterogenen und sehr großen Gesellschaft ist nur möglich, wenn Regeln erlassen und befolgt werden. Und: Regeln gelten für alle.
Es ist kein Freiheitskampf, ohne Führerschein mit einem PS-Bolliden auf der Autobahn zu rasen. Und es ist kein Freiheitskampf, die Mund-Nasen-Maske dort nicht zu tragen, wo sich auch gefährdete oder vorerkrankte Menschen aufhalten können. Man muß sich nicht impfen lassen. Das ist geltendes Recht. Wer sich aber nicht impfen lassen will, aus welchem Grund auch immer, der muß auch die Folgen seiner Entscheidung mannhaft tragen und darf der Mehrheitsgesellschaft, die sich auf der Basis wissenschaftlicher und medizinischer Erkenntnisse anders entschieden hat, nicht mit dem beständigen Mimimi des Freiheitsentzuges kommen. Nicht alle öffentlichen Ereignisse und Lokalitäten können in pandemischen Zeiten Ungeimpften zugänglich sein. Das ist die Freiheit der Geimpften und der Schutz der Geimpften sowie derer, die sich nicht impfen lassen können, der unfreiwillig Ungeimpften. Freedom Day sozusagen.
Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Wer sich impfen läßt, übernimmt Verantwortung für sich und auch für seine Mitmenschen. Wenn erst die große Zahl der Pandemie Einhalt gebietet, ist es nicht verantwortlich, gegen jeden guten Rat und unter Zuhilfenahme abenteuerlichster Mythen und Verschwörungserzählungen, von Lügengeschichten und demokratiefeindlichen Narrativen eine Impfung zu verweigern. Scheuklapprigkeit und Engstirnigkeit verhindern so, daß wir in unserem Land eine Impfquote wie beispielsweise in Dänemark oder Portugal erzielen und damit potentiell, bei entsprechendem Verlauf der Pandemie, mehr Freiheitsrechte in Aussicht geraten.
Der Präsident des Weltärztebundes, Frank Montgomery, sprach kürzlich öffentlich von der „Tyrannei der Ungeimpften“. So unglücklich diese Wortwahl auch ist: Gemeint ist, daß sich die Politik und vielleicht auch die Medien, der öffentliche Diskurs, allzu sehr an den Befindlichkeiten der freiwillig Ungeimpften orientiert hat. Zu sehr Einschränkungen in den Fokus genommen und zu wenig den Zugewinn an Unversehrtheit und mithin an Lebensqualität in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt hat. Es ist weniger die Tyrannei der Ungeimpften als die Tyrannei nicht durchdacht-ängstlichen politischen und kommunikativen Handelns. Es gilt, sich vor allem an den Belangen und Erfordernissen derer zu orientieren, in Politik und Medienberichten, die sich verantwortungsvoll verhalten, solidarisch und emphatisch sind. Für die, also die übergroße Mehrheit der Gesellschaft, ist Freedom Day, wenn die Pandemie eingedämmt ist. Und nicht zwingend an Frühlingsanfang, wie ein FDP-Grande neulich zu verkünden wußte. Es wird keinen Freedom Day geben, ohne auch den Responsability Day zu begehen, den Verantwortungstag.
Mit dem Begriff der „Tyrannei“ zu operieren, ist, bei allem guten Willen, den ich Montgomery unterstelle, etwa so unbedacht und ungeschickt, wie es geschichtsvergessen und dumm ist, unpolitisch zumal, die deutsche Republik als Corona-„Diktatur“ verächtlich zu machen. Extremistischem Sprachgebrauch ist nicht mit groben Worten beizukommen.