Ein Wort zum Montag, dem 8. November 2021
VON CORNELIA SENG
Es war ein wunderschöner Herbsttag in der vorigen Woche. Ich habe einen Spaziergang über die „Dönche“, ein Naturschutzgebiet am Rand von Kassel, gemacht. Begleitet hat mich ein älterer Pfarrkollege aus der Nachbarschaft. Er war Kirchenrat und weiß vieles, das ich nicht weiß. Ich frage viel und höre ihm gerne zu.
Die Dönche also. Im Frühjahr und im Herbst weiden hier Schafherden. Die Bank, auf der wir eine Weile sitzen, ist von Büscheln weißer Schafwolle umgeben. Ich hebe eins der Büschel auf. Auf den feinen Wollfäden haben sich Wassertropfen gesammelt. Wie Perlen auf einer Schnur sitzen sie. „Gibt es da nicht eine Geschichte?“. Uns beiden fällt gleich die Geschichte von Gideon aus dem ersten Teil der Bibel ein. Im Buch der Richter, Kapitel 6, wird sie erzählt. In einer riskanten Lebenssituation sucht Gideon die Nähe und Unterstützung Gottes. Ist Gott wirklich an seiner Seite? Mit Hilfe der Wassertropfen auf der Wolle will Gideon das herausfinden. Und tatsächlich: Gott antwortet ihm, Gideon fühlt sich ermutigt. Dann zieht er zuversichtlich in den zunächst aussichtslosen Kampf.
Biblische Geschichten beschreiben Erfahrungen. Es sind Erfahrungen von Menschen mit Gott. „Der Glaube macht Erfahrungen mit der Erfahrung“, habe ich als theologischen Satz im Studium gelernt. Gideon hat die Erfahrung gemacht, dass Gott ihn wahrnimmt und antwortet. Wir hören von Gideons Erfahrungen und machen dann unsere eigenen. Sieht Gott mich, und wie antwortet er mir? Das ist spannend. Im Rückblick staune ich oft.
Auch wenn ich Gideons Erfahrung traue, heißt das nicht, dass ich ihn nachahme. Nie habe ich Wolle in der Nacht ausgelegt, um eine Antwort von Gott zu bekommen. Mit Kampfgeschichten habe ich ohnehin meine Schwierigkeiten. Aber ich vertraue darauf, dass Gott hört und antwortet. Und manchmal bekomme ich dann Mut, auch beherzt zu handeln.
Das Büschel weißer Wolle, das ich von unserm Spaziergang mitgenommen habe, liegt jetzt auf unserem Balkon unter einem kleinen Stein, damit es nicht wegfliegt. Zur Zierde und zur Erinnerung.