VON WOLFGANG HORN
Es gibt ja viele Umschreibungen für den Zustand, den sich viele zurückwünschen: Normalität oder Freedom-Day beispielsweise. Jedenfalls ist gemeint das Ende von Einschränkungen aller Art wegen des Coronavirus. Und: Wer wollte das eigentlich nicht? Keine Einschränkungen des Alltagslebens mehr, keine Masken, keine Abstandsregeln, keine Zertifikate oder Testungen? Niemand, wirklich niemand hat Lust auf all das. Man fügt sich. Aus Einsicht, Vernunft, aus Verantwortung – für sich und andere. Aber: Der Freedom-Day, der Tag, an dem das Ende aller Maßnahmen zu feiern sein wird, der wird noch ein wenig warten müssen, fürchte ich. Wir sind, mitten in Europa, umgeben von Ländern, in denen sich das Virus derzeit richtig austobt. In Rumänien kann das dramatisch beanspruchte Gesundheitssystem nachgerade jeden Tag zusammenbrechen. Die Intensivstationen sind voll, mit Coronapatienten. Nur ein Drittel der Menschen ist geimpft. Die Kapazitäten der Krankenhäuser sind erschöpft. In Rußland sehen wir im Moment die höchsten Sterblichkeitszahlen. In Großbritannien sind die Todesfälle auf den höchsten Stand seit März gestiegen und wurden knapp 50.000 Infektionen binnen 24 Stunden registriert. In den Niederlanden hat der Zuwachs an Coronainfektionen im Vergleich mit der Vorwoche um 44% zugenommen. Lettland wird bis zum 15. November erneut in einen harten Lockdown eintreten. Alles nur wenige Kilometer von uns in der Mitte Europas entfernt. In einem freien Kontinent, mit allen Reise- und Flugmöglichkeiten. Wir werden unser Land nicht abschotten können, das Virus braucht kein Visum. Die Frage ist nur: wann steigen auch bei uns die Infektionszahlen und die Hospitalisierungsraten wieder soweit an, daß weitere, neue Maßnahmen erforderlich werden? Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit. Dieses oft Hegel zugesprochene Wort von Friedrich Engels aus dem sogenannten “Anti-Dühring” weist auf, daß Freiheit nicht in kompletter Zügellosigkeit besteht, aus Haltlosigkeit und der völligen Abwesenheit von Regeln, sondern auf der Vernunft beruht, auf Rationalität, auf Einsicht in den Lauf der Dinge, Verständnis der Gesellschaft, Kompetenz in der Beurteilung von Zusammenhängen und Interdependenzen, auf Verantwortung. Es gibt keine dumme Freiheit. Nicht einmal die Freiheit der Dummen. Freiheit ist das Produkt von intellektueller und moralischer Anstrengung. Nicht von Lautstärke, nicht von Krawall, nicht von Wut. Auch in pandemischen Zeiten.
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