Sexualerziehung in Schulen: Ein Bildungsauftrag mit Nachholbedarf

Dr. Anna Hartmann im Gespräch mit Uwe Blass über den Lehr- und Forschungsschwerpunkt des Projektes „Sexuelle Bildung“ an der Bergischen Universität

Sind wir in Bezug auf ´Sexuelle Bildung` eine tolerante Gesellschaft? 

VON UWE BLASS

Wuppertal/Bergisches Land | Bedenkt man die Tatsache, dass der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, erst mit Wirkung vom 11.Juni 1994 abgeschafft und die Ehe gleichgeschlechtlicher Partner gerade mal seit 2018 legalisiert wurde, gibt es auch in Deutschland noch viel zu tun. Gerade die jüngsten Ereignisse – das Verbot der Stadionbeleuchtung in Regenbogenfarben durch die UEFA während der Fußball Europameisterschaft oder das Homosexuellengesetz im europäischen Ungarn – geben uns durchaus zu denken. An der Bergischen Universität gibt es ein Projekt mit dem Titel ´Sexuelle Bildung`, an dem die Sozialwissenschaftlerin Dr. Anna Hartmann am Lehrstuhl Allgemeine Erziehungswissenschaft/ Theorie der Bildung federführend beteiligt ist. Ein gesellschaftliches Umdenken muss bereits bei den Jüngsten beginnen, denn Sexualerziehung ist vielmehr als die bloße Aufklärung der menschlichen Anatomie. „Sexualerziehung ist ein schulischer Auftrag, den es schon seit 1968 gibt“, sagt Hartmann, und die Frage, die das Projekt mit in Gang setzte war: „Wie setzen das eigentlich Schulen um und wie wird das in der Lehrer:innenbildung integriert?“

Ein Verbot setzt eine erneute Debatte in Gang

„Vielleicht war das Verbot der UEFA in München sogar ein glücklicher Zufall“, sagt Hartmann, „denn dadurch hat die Debatte auch wieder an Fahrt aufgenommen und die Auseinandersetzungen, die gerade in Ungarn laufen, werden sichtbarer.“ Symbolpolitik ohne strukturelle Auswirkungen nennt Hartmann diesen Vorgang, der aber auch im scheinbar liberalen Deutschland kontrovers diskutiert würde, auch wenn die rechtliche Lage hier sicher eine andere sei, als in Ländern wie Polen und Ungarn, wo besonders die Situation für Homosexuelle und transidente Menschen deutlich schwieriger erscheine. 

„Man kann sehen, dass es in Europa eine Spaltung von eher progressiven Ländern in Bezug auf sexuelle und geschlechtliche Fragen gibt“, erklärt sie, „aber diese Debatte spielt eben auch in der Bundesrepublik eine Rolle. Wir finden hier auch Kontroversen in Bezug auf sexualpolitische oder sexualpädagogische Fragen. 

2015 gab es schon so eine Auseinandersetzung um den Bildungsplan in Baden-Württemberg.“ Damals entbrannte dort eine bundesweite Debatte um ein Arbeitspapier der rot-grünen Landesregierung in der Vorbereitung der Erstellung eines neuen Bildungsplanes. Der besondere Aufreger dabei war der Wunsch nach einer fächerübergreifenden Behandlung der Akzeptanz homo- und transsexueller Vielfalt sowie verschiedener Lebensmodelle neben der Ehe. Kritik kam von konservativen und christlichen Verbänden und in der Folge ereigneten sich teilweise gewaltsame Demonstrationen, die das Inkrafttreten des Bildungsplans um ein weiteres Jahr verschoben.

Wie will Europa mit Geschlecht und Sexualität umgehen?

Die EU-Kommission will die Rechte von sexuellen Minderheiten in der Europäischen Union besser schützen und stärken. Aber der Widerstand einiger Mitgliedsstaaten ist groß. LGBT+-Menschen (Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Anm. d. Red.) berichten von zunehmender, flächendeckender Diskriminierung. Das dokumentiert eine großangelegte Studie der EU-Agentur für Menschenrechte (FRA). Demnach gaben 2019 rund 43 Prozent der Befragten Mitglieder der Community an, sich diskriminiert zu fühlen. Russland hat seit 2013 ein Homosexuellengesetz, Ungarn hat seines gerade verabschiedet. Was passiert da eigentlich im vereinten Europa? „Europa driftet in Bezug auf die Frage: ´Wie wollen wir mit Geschlecht und Sexualität umgehen? ` auseinander“, sagt die 38-jährige, „auch Deutschland ist nicht so progressiv und hat da noch eine recht junge Geschichte.“ Erst im Jahr 2000 beispielsweise outete sich Klaus Wowereit, der damalige Berliner Oberbürgermeister. Vieles sei noch widersprüchlich, wobei die Homosexuellen- sowie die Frauenbewegung schon einiges erreicht hätten, was auch in der Politik umgesetzt wurde.

Polarisiertes Europa

Die EU will die sogenannte Konversionstherapie verbieten, eine pseudowissenschaftliche und gesundheitsschädliche Praxis, die Homosexuelle zu Heterosexuellen machen soll. Ebenso sollen Kinder, die als Intersexuelle, also mit Variationen von weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren werden, nicht ohne ihre Zustimmung operativ einem Geschlecht zugeordnet werden. Und um die Sicherheit von LGBT+, denen Hassrede und Gewalt widerfährt, zu gewährleisten, soll homophobe Hetze im EU-Recht als Verbrechen verankert werden. 

Tatsache ist, nur 21 von 27 Ländern in der EU erkennen gleichgeschlechtliche Partnerschaften an. Bei der Adoption sind es noch weniger Staaten. Ist unter diesen Umständen überhaupt ein Konsens in Europa möglich? „21 von 27 Staaten sind schon relativ viel“, erklärt Hartmann. „Ich bin 1983 geboren und während meiner Jugend in den 80er und 90er Jahren gab es keinen Staat, in dem homosexuelle Partnerschaften in einer rechtlichen Form möglich waren.“ Die große Polarisierung in Bezug auf Geschlecht und Sexualität mache einen Konsens mit konservativ ausgerichteten Positionen jedoch sehr schwierig. 

Am Beispiel Ungarns könne man aktuell sehen, wie Geschlecht momentan verhandelt werde. „In Bezug auf Transgender sehen wir in Ungarn, dass Premierminister Orban jetzt sogar eine Volksabstimmung will, ob dieses sogenannte Homosexuellengesetz durchgesetzt werden kann. Dieser Volksentscheid vollzieht sich dann mit fünf Fragen, die die ungarische Bevölkerung beantworten soll.“ In einer Frage sollen die Menschen entscheiden, ob geschlechtsumwandelnde Operationen für Kinder und Jugendliche popularisiert werden sollten. „Hier scheiden sich extrem die Geister. Die Konservativen sehen darin einen Genderwahn, so nach dem Motto, wenn man dem stattgibt, dann löst sich die Kultur auf, dann verlieren wir unsere geschlechtliche Ordnung. Und die liberalere Position stellt sich gar nicht der Frage und sagt affirmativ, das müssen wir unterstützen, das ist sexuelle Befreiung.“ Das Schicksal eines Menschen, der glaube, in einem falschen Körper zu leben, spiele da keine Rolle und Hartmann fragt, was solche Phänomene wiederum über unsere gegenwärtige Gesellschaft aussagen? 

„Da schließen sich auch viele pädagogische Fragen an. Wie können Pädagog:innen mit diesen Fragen angemessen umgehen, wenn Kinder und Jugendliche solche Bedürfnisse äußern, bereits im Kindesalter zu glauben, sie leben im falschen Körper und wollen eine operative Veränderung?“ Diese Fragen würden gegenwärtig kaum diskutiert, vielmehr seien die die Fronten sehr verhärtet, aber ein totschweigen helfe da auch nicht weiter.

Das Maß aller Dinge heißt: Aufklärung

Der Lehr- und Forschungsschwerpunkt ´Sexuelle Bildungan der Bergischen Universität entstand aus einem Projekt. Vor dem Hintergrund der Kontroverse in Baden- Württemberg stellten sich seinerzeit die Wuppertaler Wissenschaftlerinnen Rita Casale und Jeanette Windhäuser die Fragen: ´Was bedeutet es pädagogisch? Wie können wir mit Sexualität und Geschlecht in der Schule umgehen? Wie wird eigentlich Sexualerziehung bislang erteilt?, und vor allem: ´ Wie wird das in der Lehrer:innenbildung integriert? ` Daraus entwickelte sich ein Projekt, für welches nun Konzepte entworfen werden, wie sexuelle Bildung, Sexualerziehung in der Gegenwart, ausgehend von den gesellschaftlichen Bedingungen in denen wir leben, aussehen kann“, sagt Hartmann. Dazu sollen auch Themen, die sexuelle Bildung berühren, in der Lehrerbildung Eingang finden.

Tatsache ist, so Hartmann, „in der Schule findet kaum Sexualerziehung statt!“ Dabei sei das bereits seit 1968 ein rechtlicher, curricularer Auftrag aller Schulen und zwar fächerübergreifend. „Alle Lehrkräfte haben diesen Auftrag, in ihren Fächern Sexualerziehung zu erteilen. Wenn wir nach NRW schauen, gibt es da auch Richtlinien für die Sexualerziehung, denn Sexualerziehung bedeutet nicht nur sexuelle Aufklärung im engeren Sinne, sondern auch die Beziehungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu fördern.“ Die Frage nach der Gestaltung zwischenmenschlicher und sexueller Beziehungen rücke hier in den Fokus und gehöre im Rahmen der Sexualerziehung ins Lehrportfolio. Dazu komme das umfangreiche Thema der Geschlechterfrage „nicht nur bezogen auf sexuelle Identität, sexuelle Orientierung und Vorstellung über Geschlecht“, erklärt die Wissenschaftlerin, „, sondern auch auf die gesellschaftliche Struktur unserer Geschlechterordnung.“ 

In den 1950er und 1960er Jahren war die Rollenverteilung von Mann und Frau klar geregelt, doch es habe seitdem eben einen enormen Wandel gegeben. „Es gibt eine Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, eher eine Angleichung von Frauen an das Model von Männern“, sagt Hartmann und daher bestehe ein Bedarf, alte Aufgaben, wie Kindererziehung, Versorgung von Angehörigen sowie häusliche Aufgaben jedweder Art, neu zu durchdenken. „Solche Fragen müssten eigentlich in Sexuelle Bildung oder Sexualerziehung einbezogen werden, und hierfür braucht es Konzepte!“ 

Egal wie liberalisiert eine Lebensgemeinschaft sei, in welcher Beziehung die Menschen miteinander lebten, diese Beziehungsfragen seien geschlechtsübergreifend. „Wie wollen wir alle, wenn wir 40 Stunden arbeiten, diesen ganzen Sorgeanteil bewerkstelligen? Das betrifft Homosexuelle genau wie Patchwork-Familien. Wir müssen uns fragen, wie eine Gesellschaft das bewerkstelligen will, ohne dass ein Teil von ihr, und das waren in der Regel Frauen, abgewertet wird, weniger verdient und damit in die Altersarmut rutscht.“

In der Schule findet kaum Sexualerziehung statt

Sexualerziehung in Schulen ist ein schwieriges Thema und findet nach Hartmanns Worten auch kaum statt. Lehrkräfte würden diesen dienstlichen Auftrag oftmals gar nicht kennen, weil er z.B. in der Lehrerbildung keine Rolle spiele. Auch scheinen die Fragen, die mit sexueller Bildung verbunden sind, Lehrkräfte oftmals zu verunsichern. „Wenn Sexualerziehung dennoch stattfindet, laden engagierte Lehrkräfte sich externe Träger ein, die Projekttage machen. Das ist sehr gut, das muss man auch befürworten, aber das, was Schule leisten soll in diesem Bereich, findet faktisch nicht statt.“ Daher scheint es umso wichtiger, nach Lösungen zu suchen, die diesen Zustand ändern. 

Im kommenden Jahr organisiert Hartmann an der Bergischen Universität ein Symposion mit dem Titel: ´Sexuelle Bildung – Quo vadis? Feministische und geschlechtertheoretische Perspektiven auf Sexualität und Subjektbildung. „Unser Anliegen ist es, eine Debatte zu eröffnen und auch heikle Fragen zu stellen“, erzählt sie. Historische Forschungen zur ´Sexuellen Bildung zeigten, dass in den späten 1960er Jahren im Zuge der sexuellen Revolution eine ganze Welle von sexualpädagogischen Ansätzen entstanden, diverse Strömungen, Streits und Kontroversen um sexualpädagogische Konzepte geführt wurden, die Hartmann heute vermisst. „Wenn wir in die Gegenwart schauen, sehen wir eigentlich eine große Homogenität. Die sogenannte emanzipatorische Sexualpädagogik hat sich eigentlich durchgesetzt. Aber daneben bestehen wenig weitere pädagogische Konzeptionen, vor allem welche, die auch die Geschlechterfrage in einem weiten Sinne aufgreifen.“ 

Ebenfalls sei die generationale Beziehung in aktuellen Konzepten noch sehr unterbetont und auch die Ausgestaltung pädagogischer Beziehungen müsse in sexueller Bildung mehr bedacht werden. Eine provokante Frage in diesem Symposion wird sich z.B. um die erotische Dimension in pädagogischen Beziehungen drehen. Jeder weiß um die Verliebtheit von Schülerinnen und Schülern, kaum einer weiß, wie man damit umgeht, doch auch das ist Realität. „Wenn man heute so etwas formuliert,“, gibt Hartmann zu bedenken, „tut sich schnell der Gedanke auf, ob das schon missbräuchlich ist, oder schon eine Grenzüberschreitung vorliegt. Aber es ist wichtig, solche Fragen in die Diskussion zu bringen, denn auch erotische Komponenten oder auch die Komponente von Verliebtheit in pädagogischen Beziehungen, spielen immer eine Rolle und sind notwendig für Bildungsprozesse.“

Somit hat unsere tolerante Gesellschaft noch einen weiten Weg vor sich. Wissenschaft kann dabei wichtige Impulse setzen.

Dr. Anna Hartmann
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl „Allgemeine Erziehungswissenschaft/Theorie der Bildung“ mit dem inhaltlichen Schwerpunkt sexueller Bildung für Schule und Lehrberuf.

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