VON WOLFGANG HORN
Die Freiheitsrechte würden beschnitten, wenn der Zugang zu Veranstaltungen, Geschäften, Restaurants, Hotels, Verkehrsmitteln, Festen, Sportveranstaltungen, Kinos, Theatern, Museen, Bordellen, Physiotherapeuten, Clubs oder Konzerten davon abhängig gemacht wird, vollständig geimpft zu sein. So ist allenthalben zu hören. Von Christian Lindner etwa, von Schwurblern, Impfunwilligen, Besserwissern. Die Freiheitsrechte. Ist es ein Freiheitsrecht, umgeimpft und infiziert in einem Restaurant zu speisen und womöglich andere Gäste anzustecken? Oder besteht in diesem Fall die Freiheit des Restaurantbesitzers nicht auch darin, den Zugang zu seinem Etablissement zu limitieren, einzuschränken? Ist es wirklich ein Freiheitsrecht, infiziert und ungeschützt andere Menschen in Kinos, Theatern, Museen zu gefährden? Von welcher Freiheit kann hier die Rede sein? Wird nicht meine Freiheit begrenzt durch die Freiheitsansprüche anderer? Freiheit kann demnach nicht verstanden werden als Möglichkeit, als Garantie, tun und lassen zu können, was einem einfällt. Freiheit besteht nur im sozialen Raum, nur im Umgang mit anderen Menschen, nur als gesellschaftliche Regel, nur als Resultat rationaler und moralischer Überlegungen. Meine Freiheit wird nicht durch Geschwindigkeitsbegrenzungen beschränkt, durch die Ordnung des Straßenverkehrs, durch das Strafgesetzbuch oder andere Gesetze, durch das Vertragsrecht, durch die Ordnung und Verfassung der Gesellschaft. Im Gegenteil. Das alles ermöglicht die individuelle Freiheit erst. Ordnung, Verfassung, Regeln, Gesetze, Moral, all das ist Basis und Garant individueller Freiheit. Seit je her, genauer seit 1877 ist in der Schrift von Friedrich Engels „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, als Anti-Dühring bekannt, zu lesen: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Interessant, Freiheit kombiniert zu lesen mit Einsicht und Notwendigkeit. Einsicht in Notwendiges ist vielleicht von notorischen Besserwissern, von Verschwörungsexperten, von Wissenschaftsfeinden oder Nicht-einmal-quer-Denkenden nicht zu erwarten. Freiheit ist eben nicht „Freie Fahrt für freie Bürger“. Räusche, selbst Geschwindigkeitsräusche finden ebenfalls ihre Grenze an den Bedürfnissen, an der Sicherheit, an der Unversehrtheit anderer Menschen. Und: Freie Bürger definieren sich gewiß nicht über PS-Zahlen oder Tachometer. Das ist vielleicht der Fehler in der Grundannahme des Porschefahrers, von dem eingangs die Rede war. Jede Regel, die zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr führt, Führerscheine, Versicherungen, Tempobegrenzungen, Sicherheitsgurte oder Brillen, ist nicht Einschränkung von Freiheiten, sondern Garantie derselben. Weil Gefährdungen begrenzt werden, die anderer, auch die der eigenen Person. Der abgelutschte ADAC-Slogan von der freien Fahrt für freie Bürger aus dem Jahr 1974 war kaum mehr als eine populistische Verirrung, eine Sackgasse des Denkens, wie etwa auch der „Geiz-ist-geil-Spruch“ aus jüngeren Tagen. Nichts ist geil an der asozialen Eigenschaft des Geizes, nichts ist frei an hemmungsloser und ohnmächtiger Raserei. Freiheit läßt sich eben nicht begreifen als partikulares Recht. Freiheit kann nur begriffen und wirklich gelebt werden als soziales Recht, als Recht gegen Übergriffe, auch denen von Autoritäten, als Recht und Pflicht zur rationalen Regelung des Zusammenlebens, als moralische Richtschnur von Gesellschaftlichkeit. Eine andere Leerformel ist von ähnlicher gedanklicher Anstrengung geprägt wie der Spruch vom Tempo oder der vom Geiz: „Freiheit statt Sozialismus“. Dagegen: Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden. Rosa Luxemburg verleiht mit diesem Satz ihrer Überzeugung Ausdruck, dass „politische Freiheit“ nicht das Privileg einer Gruppierung sein kann: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“ Freiheit ist kein Privileg. Keines der Mehrheit. Sie steht Minderheiten ebenso zu. Freiheit ergibt sich aus der Ordnung der Gesellschaft. Man kann sie nur in Gesellschaft wahrnehmen und ausüben. Für monadische Einzelwesen ist Freiheit kein Begriff, existiert keine Freiheit, ist sie nicht erfahrbar. Es kann also nicht um ausgelassenes, regelloses Treiben gehen, um Willkür. „Wir leben in einer echt krassen Zeit und es geht um die komplette Eigenverantwortung, die jeder für sich tragen muss“, so Nena auf ihrem letzten Konzert. Ein Satz, symptomatisch für die geistigen Luftballons und das verkürzte Freiheitsverständnis des Querdenker-Lagers. Eigenverantwortung, eine der zentralen Vokabeln liberaler Gedankengebäude, wird von der Sängerin so ganz und gar nicht begriffen, wenn sie ihre Konzertbesucher auffordert, alle Regeln zu ignorieren und, ohne den Abstand einzuhalten, nach vorne zur Bühne zu kommen. Wenn Menschen in einem Konzert Risiken für sich eingehen wollen, dann ist das ihr gutes Recht. Das aber endet, wo sie mit ihrem Handeln andere Menschen gefährden. Freiheit bedeutet eben nicht, zu tun und zu lassen, was man will. Auch nicht, wenn Nena es so besingt. Mitunter es ist notwendig für das Wohlergehen und die Freiheit einer Gesellschaft, zeitweilige Einschränkungen hinzunehmen. Der Pandemie oder dem Klimawandel begegnet man eben nicht mittels „kompletter Eigenverantwortung“, selbst wenn der liberale Philosoph unserer Zeit, Christian Lindner, dies zur FDP-Maxime erhoben hat. Wenn alle nur danach entscheiden, was ihnen im Moment als richtig erscheint und sich dabei nichts von außen sagen, vorschreiben lassen wollen, schlägt Freiheit in Willkür um. Liberale Willkür ist nicht besser als die Willkür der Schwurbler.
Amen! Klarer kann man’s nicht beschreiben. Es geht eben nicht nach dem Prinzip „wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht!“