Visionen

VON WOLFGANG HORN

Niemand Geringeres als der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, Weltökonom und Sozialdemokrat, hatte den Rat parat, daß zum Arzt gehen solle, wer Visionen habe. Womöglich hatte er im Sinn, die Menschen zu mahnen, nüchtern zu bleiben, nicht abzuheben. Seine Nachfolger, vor allem jene, die den Ehrentitel Weltökonom nicht für sich beanspruchen können und in Städten und Gemeinden die einst große, nun aber alte Partei SPD darstellen, haben das Schmidtsche Diktum offenbar wörtlich genommen, wortwörtlich, gleichsam wie Evangelikale die Bibel. Die Vision eines Kreativ-Areals für Jugendliche und junge Erwachsene im Eifgen mit Tonstudio, Theaterworkshops, Schreibwerkstätten, Ateliers, Schminkkursen, Töpferwerkstatt, Videoschnitt und was sonst noch alles – das war ihnen zuviel, den Sachwaltern der Schmidtschen Hygienevorschrift. Also haben sie sich mehrheitlich für Bürobauten im Eifgen entschieden. Da weiß man schließlich, was man hat und ist auf der sicheren Seite. Sozusagen das sozialdemokratische Jodeldiplom. Und Büros kann man bekanntlich ja nicht genug haben, oder? Im Eifgen stören sie auch nicht, gell? Junge Menschen habe Visionen. Gottlob. August Bebel sei Dank. Sie sind noch nicht zugerichtet, nicht scheuklapprig und stromlinienförmig. Sie sind noch nicht durch den politischen Windkanal gejagt worden. Parteiräson kann nur Parteisoldaten leiten, Menschen, die nach langen Jahren mit Versammlungen in Hinterzimmern und Plakataktionen zu Wahlkampfzeiten bestens parteisozialisiert sind, denen der Widerspruch abgeschliffen, die Eigenwilligkeit ausgetrieben worden ist. Jugendliche, junge Erwachsene wissen zumeist noch nicht, sich zu benehmen, sich einzufügen, politische Rituale gelten zu lassen. Sie sind eigenwillig, vorlaut, unbequem. Eckig statt abgerundet, widerständig, nicht konform. Früher hätten Sozialdemokraten sich um sie gerissen. Heute, da die Revoluzzer von einst Stimmungen nicht mehr erkennen, Chancen nicht mehr riechen, Potentiale nicht mehr wahrnehmen, schickt man sie zum Arzt. Nein. Das nun nicht. Aber man bügelt ihre Vision mehrheitlich ab. Und fügt sich der Verwaltungslogik. Schade. Ich kann Menschen sogar verstehen, die sich unter diesen Umständen der Visionsallergie von Parteien abwenden, von lokaler Politik. Das war gestern eine Fehlentscheidung.

Kommentare (3) Schreibe einen Kommentar

    • Wolf
    • 29.06.21, 16:49 Uhr

    Vielleicht sollte man sich einen kleinen Merkzettel machen auf dem man sich die letzten Ereignisse (Weihnachtsbaum, Eifgen) notiert. Vielleicht kommen ja auch noch ein paar positive Dinge dazu. Vielleicht aber auch nicht.
    Und dann sollte man diesen kleinen Merkzettel zur nächsten Kommunalwahl auspacken und einfach mal abgleichen, welche Parteien diese leergelutschten Worthülsen von “Bürgernähe” und “Transparenz” wirklich noch bereit sind, mit etwas Leben zu füllen.
    Das könnte bei der nächsten Wahl durchaus hilfreich sein!

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    • petra
    • 30.06.21, 18:21 Uhr

    Wie wäre es denn damit, wenn die jungen Menschen mit Visionen nicht zum Arzt gingen, sondern stattdessen in die hier so geschmähten Parteien? Wie soll sich denn dort etwas ändern, wenn nicht junge Menschen, die (noch) nicht abgeschliffen sind vom politischen Geschehen, neue Impulse in die Entscheidungsfindungs-Prozesse einbringen? Ihr Herzblut und ihre Hitzköpfigkeit?
    Denn genau das ist es, was ich zum Beispiel an unserer Jugendorganisation, den Jusos, so schätze: Die bringen immer wieder frischen Wind in die Debatten und können so an Entscheidungen mitwirken.
    Und wie wäre es, wenn nicht auch noch hier der negative Denkrahmen der „Hinterzimmer“ immer wieder heraufbeschworen würde?

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    • Grauganz
    • 30.06.21, 19:20 Uhr

    Liebe Petra,

    zugegeben, es ist sehr lange her: Aber als ich noch einen Deutschlehrer hatte, im Gymnasium, hat der mir Enzensberger nahegebracht: Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne. Sie sind genauer. Dr Franz-Josef Petermann, für mein Deutsch und mein Englisch verantwortlich, auch und wesentlich, hatte Recht. Das war ein Rat fürs Leben. Genau lesen. Nicht hudeln. Hier werden keine Parteien geschmäht. In diesem Kommentar setze ich mich nur mit einer Partei auseinander. Der SPD. Und die kritisiere ich. Niemals hätte ich beispielsweise über die CDU am Ort geschrieben, daß dort einstige Revolutionäre am Ruder seien. Sobald in der SPD Herzblut und Hitzköpfigkeit zu verspüren sind, unabhängig vom Alter der Leiber, in denen der Blutdruck steigt und das Adrenalin kocht, können sich diese Menschen die sattsam bekannten Vokabeln anhören: weltfremd, intellektuelle Spinner, Elfenbeinturm, keine Ahnung, häng erst einmal Plakate auf. Das trifft auch solche, die dem Jusoalter längst entwachsen sind. Der frische Wind säuselt mitunter in sozialdemokratischen Reihen, bewegen tut er nichts. Sturmfest und erdverwachsen macht eine Fraktion, was sie immer schon gemacht hat. Das kennt sie eben. Und vor Jahren hat das auch noch funktioniert. Nur jetzt nicht mehr. Die Bürger sind es satt, so behandelt, abgehandelt zu werden. Wie wäre es, liebe Petra, wenn Du abgehobene, nicht mehr vermittelbare und den Bürgerinnen und Bürgern nicht zeitig öffentlich gemachte Projekte mal zu einem “negativen Denk- und Handelsrahmen” machtest, statt die Kritik daran, daß die SPD am Beschluss beteiligt war, die ganze Angelegenheit nicht öffentlich zu behandeln. Im übrigen: Ich bleibe dabei. Die Menschen sollen sich in Parteien organisieren. Auch. Es gilt, die Demokratie zu sichern. Gegen Anfeindungen vor allem von Rechts, die Rechtsstaat und Demokratie, Meinungsfreiheit und eine offene Gesellschaft bedrohen. Die SPD braucht bessere Antennen und einen offenen Geist, Aufgeschlossenheit, open mind, wie es neudeutsch heißt.

    Wolfgang Horn

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