VON JOACHIM ZAPPE
Was steckt im Einzelnen hinter der Absicht des Schulministeriums, im Schuljahr 2021/2022 trotz harter Corona-Zeiten die Grund- und Förderschulen mit Lehrplanarbeit zu beauftragen? Für die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) hat Alex Blumberg* auf die wichtigsten Fragen geantwortet.
Warum lehnen Sie die neuen Lehrpläne ab?
Alex Blumberg: Wir lehnen neue Lehrpläne nicht grundsätzlich ab. Was wir ablehnen, ist zum einen die Einführung zum Sommer hin. Kinder wie Lehrkräfte leiden massiv unter den schwierigen Rahmenbedingungen der Pandemie. Viele Kinder, besonders jene mit vorher schon vorhandenen Schwierigkeiten, sind in ihrer Lernentwicklung noch einmal geschwächt aus der Zeit des Lockdowns gekommen. Diesen Kindern müssen wir auf breiter Basis Chancen geben Defizite aufzuholen und wieder im Leben und Lernen an der Schule anzukommen. Dies geht nicht mit neuen Lehrplänen, die in vielen Bereichen strenger sind als die bisherigen.
Inwiefern stellen die neuen Lehrpläne ein Problem für die Lehrkräfte dar?
Neue Lehrpläne erfordern eine intensive Auseinandersetzung, wenn man sie gut umsetzen will. Man braucht Fortbildungen, Implementierungsveranstaltungen – und besonders Zeit. Dies ist aber gerade kaum möglich. Aktuell beginnen beispielsweise die Vorläufe zu den Schulbuchbestellungen für das kommende Schuljahr. Neue Lehrpläne heißt ja auch, dass wir neue Bücher brauchen. Diese müssten wir aber erst sichten und mit den Bedarfen der Schulen und den neuen Lehrplänen abgleichen – die Lehrpläne liegen aber zurzeit noch gar nicht vor. Es ist also schlichtweg nicht möglich, jetzt gut informiert neue Schulbücher zu bestellen.
Was kritisieren Sie ansonsten an den neuen Lehrplänen?
Es gab nur eine kurze Zeit der Einsichtnahme in die Pläne, die notwendige Verbändebeteiligung war – wie so oft zurzeit im Schulministerium – eine Farce, zumal die Ankündigung der Pläne zeitgleich mit den Vorläufern des Dezember-Lockdowns kam. Dann sollten die Verbände, bei denen sich meistens Lehrkräfte ehrenamtlich engagieren, im Umbruch der Lernsituationen mal schnell über die Weihnachtstage Einsicht nehmen. So schnell kann man keine fundierte Stellungnahme abgeben.
Warum möchte das Ministerium denn so schnell die neuen Pläne einführen?
Das erschließt sich mir leider nicht. Wie ich aber erfahren habe, sind die Schulbuchverlage viel früher als die Lehrkräfte und Verbände informiert worden, damit sie neue Bücher rechtzeitig auf den Markt bringen. Und im Moment trudeln in den Schulen viele Pakete mit neuen Lehrbüchern ein. Warum informiert uns das Ministerium nicht rechtzeitig? Denn wie schon gesagt, ohne die Lehrpläne selbst haben wir ja gar keine Möglichkeit zu bewerten, ob das vorliegende Buch überhaupt passend ist. Wenn ich mir die Schwerpunkte der neuen Lehrpläne so anschaue, dann sehe ich weder ein Interesse an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler oder der Schulen, noch sehe ich nicht, dass es hier fachlich fundiert Lerninhalte geht, die auf einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz beruhen.
Aber mehr Fachlichkeit, die laut Frau Gebauer ja eingeführt werden soll, ist doch etwas Positives.
Wir würden ja mehr Fachlichkeit sehr begrüßen – wenn sie dann richtig umgesetzt würde. Frau Gebauer hat aber gerade erst mehrere Maßnahmen ergriffen oder unterstützt, welche die Fachlichkeit in den Grundschulen massiv torpedieren. So wurden die Ausbildungsseminare für Mathematik und Deutsch zusammengelegt und die Stunden für die Ausbildung der Lehramtsanwärterinnen und -anwärter massiv gekürzt – zum wiederholten Mal in den letzten Jahren. Gleichzeitig wurden die Aufgabengebiete für Grundschulkräfte immer mehr ausgeweitet, so dass für den eigentlichen Unterricht und dessen Vorbereitung immer weniger Zeit zur Verfügung steht. Wegen des Lehrkräftemangels müssen immer mehr nicht fertig ausgebildete Menschen unterrichten. Außerdem wurden alle Anträge auf bessere Bezahlung der Grundschullehrkräfte abgelehnt.
Aber man kann doch nun nicht sagen, dass Lehrer schlecht bezahlt werden.
Da haben Sie grundsätzlich Recht, doch werden Grundschullehrkräfte immer noch schlechter bezahlt als ihre Kolleginnen und Kollegen an den Gymnasien oder als die sonderpädagogischen Kräfte, die mit ihnen zusammen in den Grundschulen arbeiten. Aber der eigentliche, springende Punkt ist, dass wir einen eklatanten Lehrkräftemangel an den Grundschulen haben, der uns noch viele Jahre lang begleiten wird. Die bisherigen Maßnahmen von Frau Gebauer gegen den Mangel sind ein Tropfen auf den heißen Stein, weil nicht nach den Ursachen gefragt wird. Wir bekommen in der öffentlichen Diskussion oft zu hören, warum wir Grundschulkräfte denn jammern, wir hätten uns den Job doch ausgesucht. Aber das ist es ja gerade: Immer weniger Menschen suchen sich diesen Job aus, weil sie sehen, unter welch schlechten Bedingungen wir arbeiten, und weil man am Gymnasium für mehr Geld auch unterrichten kann. Die Lücken werden mit Studierenden oder Menschen gestopft, die gerade mal eine Jugendfreizeit betreut haben. Aber dann kommen wir wieder zurück zur Fachlichkeit: Wie sollen denn – selbst beim besten Willen – komplett unausgebildete Menschen oder Menschen, die noch lange nicht fertig sind mit ihrer Ausbildung, den Job denn kompetent leisten können? Wie kann ich fachlich gut arbeiten, wenn ich erst einmal lernen muss, eine Grundschulklasse so ruhig zu bekommen, dass Lernen für die Kinder überhaupt möglich ist?
Sie sprechen die Schwierigkeiten in den Grundschulen allgemein an.
Ja, die Grundschulen ächzen unter immer mehr Aufgaben und einem immer schwierigeren Arbeitsumfeld. Wir müssen die Inklusion umsetzen, ohne dass Personal dafür da ist. Die Kinder, die heute in die Schulen kommen, sind wegen des veränderten Einschulungsstichtags ein Vierteljahr jünger als noch vor einigen Jahren. Dann gab es Änderungen bei den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und eine gesellschaftliche Entwicklung, bei der Kinder immer mehr Primärerfahrungen wie Greifen, Klettern, Laufen, Hinfallen fehlen, weil sie zu sehr digitalen Medien ausgesetzt sind. Gleichzeitig verhindern Vorschriften oft, dass wir frühzeitig effektive Hilfen umsetzen. Es haben so viele Kinder in den ersten Schuljahren Schwierigkeiten, in der Schule zu lernen, dass unsere Hauptbeschäftigung erst einmal ist, Therapie- und Unterstützungsangebote für die Kinder und deren Familien zu installieren. Diese Arbeit ist so bürokratisch und so aufwändig, dass wir kaum allen Kindern gerecht werden können. Viele Kolleginnen und Kollegen leiden sehr darunter, dass sie am liebsten allen Kindern die Hilfen zukommen lassen möchte, die die Kinder brauchen, dass es aber sowohl zeitlich als auch seitens der Bürokratie nicht möglich ist.
Und dies hat während der Pandemie noch verstärkt, sagen Sie…
Ja, definitiv. Wir kommen gar nicht nach damit, die Probleme der Kinder aufzufangen. Wer wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen mit Herzblut Lehrkraft ist, dem zerreißt es gerade das Herz, wenn man sieht, wie viele Kinder, vor allem aus ohnehin benachteiligten Schichten, unter den Pandemiefolgenleiden.
Trotzdem ist Ihre Gewerkschaft gegen die Schulöffnungen.
Nein, wir sind nicht gegen die Schulöffnungen. Ich finde es extrem wichtig, dass die Kinder wieder Kontakte zu anderen Kindern haben, und dass wir vor Ort die Lernentwicklung wieder begleiten können. Aber das, was gerade passiert, ist eine verantwortungslose Schulöffnung, weil die begleitenden Schutzmaßnahmen entweder zu spät kamen, gar nicht installiert wurden oder nicht so durchführbar sind, wie das Ministerium sich dies vorstellt. Der Rahmen für eine verantwortungsbewusste Schulöffnung wäre gewesen, alle Schulen mit Luftfiltern auszustatten, alle Lehrkräfte vor der Schulöffnung zu impfen und verpflichtende Tests für die Kinder zu installieren, die professionell durchgeführt werden. Dann brauchen wir dringend besser Unterstützungsmaßnahmen für die Schulen und die Lehrkräfte. Zumal viele von uns am Rande der Erschöpfung arbeiten.
Oft hört man doch, die Lehrer würden zu wenig arbeiten.
Schwarze Schafe gibt es überall, daran dürfen Sie keinen Berufsstand messen. Die Kollegien an den Schulen leisten gerade Enormes. An den Grundschulen bereiten wir ja Präsenzunterricht und Distanzunterricht für jeweils zwei Gruppen vor und versuchen, diese Gruppen irgendwie möglichst gleich zu halten. Dies ist eine organisatorische Mammutaufgabe. Nebenbei stemmen wir die Notbetreuung. Wir haben das vierte oder fünfte neue Unterrichtsmodell innerhalb eines Jahres umzusetzen, können nirgendwo mehr auf vertraute Arbeitsabläufe zurückgreifen. Oft gibt es die Doppelrolle Lehrkraft und Elternteil, mit den entsprechenden Problemen zu Hause. Viele von uns arbeiten weit mehr als zu normalen Zeiten und können einfach nicht mehr…
Wie müsste Ihrer Ansicht nach das Schuljahr bis zum Ende fortgeführt werden?
Wir brauchen jetzt Ruhe in den Schulen. Die notwendigen Schutzmaßnahmen habe ich ja schon beschrieben. Wenn man diese Maßnahmen umsetzen würden, dann können wir den Wechselunterricht bis kurz vor den Sommerferien durchführen. In der Hoffnung, dass bis dahin das Impfen fortgeschritten ist und die Inzidenzwerte gesunken sind, könnten dann eventuell die Abschlussklassen das Schuljahr im gemeinsamen Klassenverband beenden. Dann müssen frühzeitig für das kommende Jahr flächendeckend reduzierte Ansprüche an die Lernerwartungen gestellt werden, damit wir Fehlendes aufarbeiten können. Neue, strengere Lehrpläne darf es erst in frühestens zwei oder drei Jahren geben, und zwar in Abstimmung mit den Lehrer- und Elternverbänden und der Fachwissenschaft.
Laut Frau Gebauer gibt es doch in den Ferien Unterstützung für benachteiligte Kinder.
Frau Gebauer hat leider vergessen zu erwähnen, dass das Land nur Geld für Maßnahmen bereit gestellt hat. Diese Informationen kamen aber vor den letzten Ferien viel zu spät. Außerdem hat das Land nicht gesagt, wer denn überhaupt diese Förderung durchführen soll, wer sie organisiert und wie man in den Ferien an die Kinder kommt, die Unterstützung benötigen. Nein – diese Gelder können höchstens ein ergänzendes Angebot sein, wenn es überhaupt ein schlüssiges Konzept zur Umsetzung gibt. Für alle Schulen ist wichtig, dass Frau Gebauer endlich eingesteht, dass dieses Schuljahr kein normales ist und nicht gemäß Stundentafel zu Ende gebracht werden kann. Wenn alle Kinder Lernrückstände haben, dann müssen die Lehrpläne für alle Schulen auf eine längere Zeitdauer angepasst werden. Dies ist übrigens noch ein Argument gegen neue, strengere Lehrpläne.
Was würden Sie Frau Gebauer oder der Schulpolitik denn auf lange Sicht empfehlen?
Wer Schule positiv verändern möchte, muss zunächst unbedingt mit denjenigen sprechen, die Schule „machen“, das sind die Schulleitungen und Lehrkräfte bzw. deren Verbände als Vertreter. Unsere Arbeit muss wertgeschätzt werden und unsere Expertise ernst genommen werden. Mit den Schülerinnen und Schülern muss man auch sprechen bzw. bei den jüngeren Kindern mit den Eltern oder Elternverbänden. Auch diese müssen ernst genommen werden. Es muss eine Bestandsaufnahme erfolgen, wo Probleme sind. Die Fachwissenschaft, die Lernforschung, die Bildungsdidaktik müssen einbezogen werden, Veränderungsprozesse müssen auf empirisch nachvollziehbaren Werten und Daten beruhen. Wussten Sie, dass es für viele der Veränderungen, die Frau Gebauer gerade haben will, keine wissenschaftliche Basis gibt?
Es darf niemals mehr sein, dass Bildungspolitik Parteipolitik oder nur Sache der Regierungen der Länder ist. Schule ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dazu müssen wir alle politischen Richtungen ins Boot holen und einen breiten gesellschaftlichen Konsens anstoßen: Was soll Schule leisten und wie kann dies umgesetzt werden? Und vor allem: Welchen Stellenwert hat Bildung in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker? Wie machen wir unser Land fit für die Zukunft? Zurzeit liegen wir bei den Bildungsausgaben pro Kopf weltweit nicht mal auf Platz 70, weit hinter Ländern wie Botswana, Costa Rica, Ecuador oder Tunesien. Und NRW ist zusätzlich in Deutschland bei den Schlusslichtern. „Mehr Fachlichkeit als Leitmotiv“ reicht nicht, wenn es keine Lehrkräfte gibt, die dies umsetzen können, wenn man um die Finanzierung eines jeden Schulbuches kämpfen muss, wenn die Fenster sich nicht öffnen lassen oder einem auf den Kopf fallen. Aber Bildung ist unsere Zukunft! Wer das nicht versteht, solle keiner Landes- oder Bundesregierung angehören.
*Alex Blumberg ist Vorsitzender der GEW-Fachgruppe Grundschule im Rhein-Erft-Kreis