Ajla Kurtovic

Pressegespräch über das Attentat von Hanau vor einem Jahr

VON WOLFGANG HORN

Ajla Kurtovic lag am 19. Februar bereits im Bett, während ihre Eltern in Hanau sämtliche Krankenhäuser abfuhren auf der Suche nach ihrem Sohn Hamza, Ajlas Bruder. Wenige Stunden zuvor hatte ein rassistischer Attentäter mitten in Hanau ein Mordgemetzel angerichtet, dem neun Hanauer zum Opfer fielen, allesamt mit Migrationshintergrund, sowie der Mordschütze selber, Tobias R., und dessen Mutter, die der Mörder mit rechtsextremistischer Gesinnung ebenfalls umgebracht hatte. Sieben weitere Menschen – zwei Frauen und fünf Männer – wurden zum Teil schwer verletzt. 

Hamza Kurtovic starb an diesem Abend in einem Hanauer Krankenhaus, ohne daß seine Eltern davon erfuhren, ohne daß die Geschwister von Hamza, ein Bruder und Ajla, hätten Abschied nehmen oder ihn gar auf seinem letzten Weg hätten trösten können. Erst eine Woche später gab es die letzte Gewißheit und dann erst war es den Kurtovics gestattet, sich um den Leichnam zu versammeln.

Ajla Kurtovic gab heute auf einer von zahlreichen Journalisten und bundesweit erscheinenden Medien besuchten Online-Pressekonferenz des Mediendienstes Integration Auskunft darüber, wie sie und die Angehörigen der anderen Opfer das Attentat von Hanau vor knapp einem Jahr erlebt hatten und welche Fragen in der Zeit seither immer noch nicht beantwortet worden sind. Der Attentäter hat sich selber erschossen, insoweit wird nicht mehr gegen ihn ermittelt. Die Angehörigen aber wollen, daß die Tat, die Durchführung, die Motive, der politische Hintergrund sowie die politischen Verbindungen des Täters lückenlos aufgeklärt und transparent gemacht werden. Es gehe auch darum, Fehler im polizeilichen Handeln unmittelbar und auch noch später nach dem Mordanschlag öffentlich zu machen. Zwei Hinterbliebene des Anschlag hatten im November Strafanzeige gegen die Hanauer Polizei gestellt, weil der Notausgang der Arena-Bar, in der zwei Personen erschossen wurden, auf polizeiliche Anordnung hin verschlossen gewesen war. Möglicherweise wären einige der Opfer noch am Leben, wenn sie durch den Notausgang hätten fliehen können. Die Angehörigen, so Ajla Kurtovic, hätten ein Anrecht auf eine akribische Ermittlung auch der Ungereimtheiten. 

Die Hinterbliebenen, so Ajla Kurtovic weiter, wissen eigentlich bis heute noch nicht, was wirklich im Einzelnen geschehen ist. Ihnen geht es um Transparenz und um die Beantwortung der Frage: Wie konnte es soweit kommen, wie konnte das in Hanau geschehen? Der Opferbeauftrage der Stadt, Andreas Jäger, kann es ebenfalls nicht wirklich begreifen. Hanau sei eine offene, eine bunte Stadt, mit sehr vielen Erfahrungen im gleichberechtigten Umgang von Menschen mit anderen kulturellen oder ethnischen Hintergründen. Er könne sich die Tat bis heute nicht erklären.

Ajla Kurtovic, kritisiert, daß es bis heute kein Gespräch mit der Polizei gegeben habe, daß es keine Entschuldigung gebe etwa für die Ermittlungspannen. Ihr geht es neben der lückenlosen Aufklärung auch darum, selbst im Kleinen die richtigen Schlüsse zu ziehen aus dem Geschehen in Hanau. So müßte etwa bei der Erteilung von Waffenberechtigungen sorgfältiger auch die psychische Verfassung der Antragsteller überprüft oder auch ermittelt werden, ob sie beispielsweise auf pathologische Weise Anhänger von Verschwörungsmythen seien.

Andreas Jäger verwies noch darauf, daß überdies die Corona-Pandemie den Angehörigen in ihrer Trauer zugesetzt habe. Nach dem Attentat setzte schnell der erste Lockdown mit den Kontakteinschränkungen ein. So habe kaum die Möglichkeit bestanden, sich in den Arm zu nehmen, Nähe herzustellen in der gemeinsamen Erschütterung, gemeinsam Zeit zu verbringen. Dieser Zustand halte nun seit bereits sehr langer Zeit an.

Im März des vergangenen Jahres wurde die “Initiative 19. Februar Hanau” mit dem Ziel gegründet, daß die Opfer und ihre Namen nicht in Vergessenheit geraten sollten, und im Mai konnte sie bereits eine Anlaufstelle für Betroffene, Angehörige und weitere Interessierte unter dem Namen “140qm gegen das Vergessen“ einrichten. Die Mutter des getöteten Ferhat Unvar, Serpil Unvar, gründete im November in Hanau eine antirassistische Bildungsinitiative.

Matthias Quent, Soziologe und Rechtsextremismusforscher sowie Gründungsdirektor des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, monierte, daß es in Deutschland immer noch keine valide staatliche Statistik über die Opfer rassistischer und rechtsextremistischer Gewalt gebe. Während das Bundesinnenministerium immer noch nur die Zahl von 109 Gewaltopfern angibt, sei die Zahl in Wirklichkeit, wie viele in diesem Bereich tätige Institutionen und Einrichtungen berichten, mit zwischen 190 und mehr als 200 nahezu doppelt so groß.

Andererseits habe der Anschlag von Hanau dazu geführt, daß die Politik, staatliche Stellen, auch das Innenministerium seither öffentlich von rassistischer Gewalt sprechen und nicht mehr zu sprachlichen Verharmlosungen Zuflucht nehmen. In Hanau war die Rede von einem „beispiellosen rassistischen Terroranschlag“. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nennt zwei Tage nach dem Anschlag den Rechtsextremismus die „größte Bedrohung in unserem Land“. Jeden Tag geschehen in Deutschland drei bis fünf rassistische und rechtsextremistische Anschläge. Es werde Zeit, so Quent, daß in Deutschland endlich auch ein Gesetz gegen Haßkriminalität installiert werde. Denn die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Landeskriminalamt (HLKA) mehrere hundert Kommentare bei Twitter und Facebook gesichert und strafrechtlich überprüft. Demnach sind in 120 Fällen Ermittlungsverfahren eingeleitet worden wegen des Verdachts der Billigung von Straftaten gemäß § 140 StGB sowie in Einzelfällen wegen des Verdachts der Volksverhetzung gemäß § 130 StGB.

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