Ein Wort zum Montag, dem 8. Februar 2021
VON CORNELIA SENG
Den Tag beginne ich mit dem Lesen der „Losungen“, zwei Versen aus der Bibel, einer aus dem Alten Testament und einer aus dem Neuen Testament. Inzwischen lese ich sie auf dem Handy.
Die Idee zu den „Losungen“ hatte Nikolaus Graf von Zinzendorf schon 1728. Auf seinem Gutshof in Herrnhut hat er Flüchtlinge aus Böhmen aufgenommen.
Ich war im letzten Sommer in Herrnhut, einem lieblichen Dorf im Osten von Sachsen. Der Kirchsaal in der Mitte des Dorfes gleicht mehr einer Versammlungsstätte, in der jeder jeden sehen kann. Auf dem Friedhof die immergleichen Grabstätten, rechts die Männer, links die Frauen. Heute ist jede/r eingeladen, den denkmalgeschützten Friedhof mit zu pflegen.
In dieser Gemeinschaft der „Herrnhuter“ sind die „Losungen“ entstanden. Sie werden tatsächlich aus einer großen Schüssel mit 1824 Versen wie Lose gezogen. Die Losung stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Ermutigt zum Glauben. Die kleinen Dinge des Alltags werden in den großen Zusammenhang des Glaubens und des Lebens gestellt.
Seit 1731 werden die Losungen in einem kleinen Büchlein gedruckt, in über fünfzig Sprachen. Heute verbinden sie mich weltweit mit der Gemeinschaft der „Losungsleser“. Das war Zinzendorfs Idee: Verbindung zu schaffen, Verbundenheit zu leben.
Manche der Verse passen genau in meinen Alltag. Andere kommen wie ungebetene Gäste, auf den ersten Blick fremd und distanziert. An denen „kaue“ ich den ganzen Tag.
Heute, am Tag an dem ich das schreibe, lautet das Losungswort: „Hiob sprach zu Gott: Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum gebe ich auf und bereue in Staub und Asche.“ (Hiob 42, 5-6)
Was meint Hiob mit „mein Auge hat dich gesehen“? Schließlich hat nie jemand Gott „gesehen“. – Meint er so etwas wie ‚erfahren‘ oder ‚ich habe es verstanden‘? Es kommt mir so vor. Hiob gilt als der leidende Mensch schlechthin. Ohne eigenes Verschulden war er dem Tod und der Verzweiflung so nah gewesen, wie kaum ein Mensch es sein kann. An der „Theodizee-Frage“ war er nahezu zerbrochen. Warum lässt Gott das Leid zu?
Im Buch Hiob steht, dass Gott „aus dem Wettersturm geantwortet hat“. Er hat Hiob die gewaltige Größe des Universums vor Augen geführt. Und ihn das Geheimnis des Lebens spüren lassen. „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschenkind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps.8,5). Das hat Hiob am Ende verstanden.
Wer bin ich, um Gott Vorhaltungen machen zu können? Wer bin ich, dass ich Gott fragen könnte: Warum schickst du ein Virus, das das menschliche Leben auf der ganzen Welt so bedroht? Und das Leiden vieler Menschen nur verschlimmert? Doch angesichts der Größe Gottes verstumme ich. Wer bin ich schon innerhalb der Weltgeschichte? Wieviele Generationen von Menschen vor mir haben Pandemien und Krankheiten durchlebt? Und weit Schrecklicheres?
Das Losungswort von heute erinnert mich an meinen Platz auf der Erde. Hier und heute. Ich bin ein Mensch unter Mitmenschen, ein Geschöpf unter Mitgeschöpfen. Angesichts der Fülle des Lebens völlig unbedeutend. Und doch mit Würde als ein Ebenbild Gottes geschaffen.
Das will ich heute fröhlich leben. – Und ich weiß, viele Menschen auf dem Globus tun es mit mir, in Erinnerung an Hiob und dank Zinzendorf.
