Ein Wort zum Montag, dem 26. Oktober 2020
VON CORNELIA SENG
Bei dem großen Luftangriff am 22. Oktober 1943 wurde Kassel fast völlig zerstört. Zur Mahnung und zum Gedenken an diese Nacht vor 77 Jahren fand ein Gottesdienst in der Martinskirche statt.
Dabei wurde auch in diesem Jahr wieder die größte Glocke geläutet, die „Osanna-Glocke“. Minutenlang erklingt der satte, tiefe Ton über der Stadt. Die Kirche wurde damals schwer beschädigt, wie die ganze Stadt. Kassel brannte lichterloh. Bis zu zehntausend Menschen sind in einer Nacht ums Leben gekommen. Das Leid und die Verzweiflung müssen unermesslich gewesen sein.
Auch die Wohnung meiner Oma im Renthof in Kassel, nicht weit von der Martinskirche entfernt, brannte fast völlig aus. Wie meine Oma wohl diese Nacht erlebt hat? Wie ist es, wenn man alles verliert, „ausgebombt“ wird? Sie hat mir nie davon erzählt. Dabei muss sie eine schöne, gut bürgerliche Wohnung gehabt haben. Das kleine Schränkchen aus der Gründerzeit, das fast als einziges altes Möbelstück erhalten blieb, hat mich als Kind immer fasziniert. Warum hat sie nie davon gesprochen, wie es zu diesem Horror gekommen ist?
Lange bevor ein Krieg ausbricht, hat er in den Köpfen der Menschen schon begonnen, heißt es. Schon 1925 hat Hitler sein Buch „Mein Kampf“ veröffentlicht. Die Propaganda der Nazis, ihre Aufmärsche, ihr Gegröle waren überall zu hören. Wie meine Oma das wohl wahrgenommen hat? Gleich nach der Wahl 1933 wurde Hitler vor dem Roten Palais hier in Kassel bejubelt. Die Bücherverbrennung am 19. Mai 1933 auf dem Friedrichsplatz hat ganz in der Nähe ihrer Wohnung stattgefunden. Hat sie gemerkt, welcher Wahn sich da breit macht? Hat das Dröhnen der Stiefel ihr Angst gemacht? Sie war damals schon Witwe. Hätte ich mich an ihrer Stelle anders verhalten?
Lange bevor Krieg und Terror ausbricht, beginnt es mit der Verbreitung von Feindbildern. Damals wurden Juden zu Feinden erklärt und auch aufrechte Sozialisten. Man hatte zu glauben an das Bild, das die Nazis verbreiteten.
„Sie nehmen uns unser Land weg“, tönt es heute wieder, und sie hetzen gegen Flüchtlinge, Juden, Andersdenkende. Und Islamisten ermorden in Allahs Namen „Ungläubige“. Sie haben ein festes Bild von ihren „Feinden“ und verbreiten ihre menschenverachtenden Vorstellungen.
„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist“, heißt es in den Zehn Geboten der Bibel (2.Mose 20,4).
Ich bin überzeugt: Das gilt auch für Feindbilder.
Die große Glocke