VON WOLFGANG HORN
Es dürfte allenthalben bekannt sein: am 13. September wird gewählt. Der Rat der Stadt, der Kreistag, der Bürgermeister. Wir wählen sozusagen, was vor unserer Haustüre geschehen, wer die politischen Geschicke im Umfeld lenken soll. Bei lokalen Wahlen, bei Wahlen im persönlichen Nahfeld sind die Kandidaten oft bekannt, als Nachbar, als Gemeindemitglied, als Sportkamerad oder Vereinsfreund. Kaum jedoch als Feind.
An dieser Stelle beginnt, was man Streit-Kultur nennen könnte. Jemand, mitunter jemand, den ich kenne, gut kenne, bekennt sich öffentlich zu einer anderen Meinung, als ich sie habe. Meine Meinung steht im Widerspruch zur Meinung meines Bekannten. Das zu achten, ist der Kern der Demokratie. Den Widerstreit von Meinungen und Interessen, politischen Zielen und Weltsichten offen und fair auszutragen, unterschiedliche Meinungen miteinander ins Gespräch zu bringen, auch andere Perspektiven als die eigene zuzulassen, das ist Streit-Kultur. Also Achtung vor der anderen Meinung, Respekt gegenüber anderen Überzeugungen.
Und umgekehrt vergeht man sich an Streit-Kultur, wenn jemand mit anderer Auffassung voller Häme behandelt wird, respektlos, wenn die Sprache beleidigend wird. Kein Mensch ist „versifft“. Ein Un-Wort, von der Syphilis abgeleitet, ein Synonym für verdreckt. „Links-grün versifft“ ist mithin eine Schmähung, nicht aber streitkultureller Umgang. Leider gibt es viele derartige Beispiele, auch in unserer Stadt, auch in der heimischen Politiklandschaft. „Wenn zwischen der Stoßstange und der Wand Merkel, Roth und Konsorten kleben, ist das ein prima Kurs.“ Nein, das ist kein Spruch an einer verdreckten Kneipen-Klowand, von einem Anonymus hingeschmiert. Das ist die öffentlich lesbare Facebookaussage eines Fraktionsvorsitzenden im hiesigen Stadtrat. Das ist das Gegenteil von Kultur, das Gegenteil von Respekt, das ist ein unmenschliches Bild in einer unmenschlichen Sprache. Da wünscht der unbefangene Leser sich, es möge sich lediglich um eine Entgleisung handeln. Wer dem politischen Konkurrenten, in diesem Fall den Grünen attestiert, sie träten für einen „Umerziehungs-, Gängelungs-, Bespitzelungs- und Verbotsstaat“ ein oder sie seien für eine Sozialpolitik, „die auch für die letzte abgedrehte Randgruppe oder den verrücktesten Verhaltensauffälligen noch einen Stuhlkreis und Fördertopf einrichtet“, sagt mehr über sich selbst aus, als über den politischen Gegner.
Streit-Kultur betont nicht eines der beiden Nomen, nicht den Streit, nicht die Kultur. Erst die Balance, das Gleichgewicht schafft den Wert des Begriffs, Streit in kultivierter Form auszutragen, Kultur nicht einem Meinungs-Einheitsbrei, etwa einem Mainstream zu unterziehen. Streit-Kultur ist ein zutiefst bürgerlicher Begriff. Streit wird mittels der Kultur gebändigt, Kultur mittels widersprechender Auffassungen erst lebendig. Wer sich dieser Streit-Kultur nicht zu befleißigen vermag, kann sehr oft behaupten, Bestandteil der bürgerlichen Mitte zu sein. Allein er ist es nicht und wird es nicht. Richtig, er.
Und das will „die bürgerliche Mitte“ sein!