Ein Kommentar zu Stuttgart, Berlin oder Wermelskirchen
VON WOLFGANG HORN
Eigentlich bin ich bislang davon ausgegangen, daß das staatliche Gewaltmonopol keines öffentlichen Bekenntnisses der Bürgerinnen und Bürger bedarf und Polizei, wie Rettungsdienste, Feuerwehren oder Katastrophenhelfer auch – wer immer in gesellschaftlichem Auftrag unterwegs ist – ungehindert und unbehelligt ihren Aufgaben nachgehen können. Eigentlich.
Wenn aber Sechzehnjährige im Verein mit älteren Clubbesuchern, trunken und wild Schaufenster demolieren, Geschäfte plündern und mit dem Ausruf „Fuck The Police“ Polizisten attackieren, dann mag ich das nicht als unangemessene Antwort auf die Teilstilllegung des öffentlichen Lebens in Coronazeiten akzeptieren. Hier liegt mehr im Argen.
Es mangelt an Einsicht in die Bewegungsprinzipien unserer Gesellschaft. Die ökonomischen Strukturen und Regeln scheinen undurchschaubar zu sein, jedenfalls für die übergroße Mehrheit jener, die nicht selbständig am Markt operieren, sondern von abhängiger Arbeit leben. Zumal die Globalisierung, die unbeschränkte Öffnung aller Märkte, weltweite Zuarbeit, weltweite Produktion, weltweiter Konsum, Verständnis nicht erleichtert. Die gesellschaftlichen Strukturen im Land – wie funktioniert unser Gemeinwesen, welche Regeln hat sich die Gesellschaft gegeben, welche Bedeutung haben die Institutionen der Demokratie, welche Presse und Medien, wo und wie kann ich mich beteiligen, wo und wie Einfluß ausüben, wie funktioniert Gewaltenteilung, auf welche Weise kann ich mithelfen, gesellschaftliche Strukturen zu verändern, welche Rolle spielen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen oder Bürgerinitiativen – sind für immer mehr Menschen nicht erkennbarer, durchsichtiger, akzeptabler geworden. Und Internetplattformen, fälschlich soziale Netzwerke geheißen, heizen mit falschen oder nur teils wahren Thesen und Behauptungen, mit dem Gebrauch einer teils sehr verrohten Sprache, mit Hetze oder Beleidigungen in gesellschaftsspalterischer Absicht eine verengt-radikalisiert-egomanische Blickweise aufs Gesellschaftliche an.
Parteien werden zu „Alt-Parteien“: also überlebten Einrichtungen; Presse gerät zur „Lügenpresse“, also: Wahrheit verschwindet, ist nicht mehr erkennbar; „wir“ sind „das Volk“, „die“, das sind die anderen, jene, die nicht zu „uns“ gehören, also: die Gesellschaft wird gespalten, die Spaltung rassistisch unterlegt; Eliten sind von übel, gleich, ob es sich um ökonomische, theologische, politisch-gesellschaftliche, literarische, wissenschaftlich-philosophische, kulturell-künstlerische Hervorbringer besonderer Leistungen und Kenntnis handelt; Polizei, Justiz, Behörden und Ämter, Regierungen und Parlamente, Minister und Abgeordnete, Richter, Journalisten, Wissenschaftler, sie allesamt folgen nur partikularen Eigeninteressen, “machen sich die Taschen voll“ oder haben, wahlweise, „keine Ahnung“ von den Lebensbedingungen des Volkes. Derber, simpler, holzschnittartiger kann man die komplizierten Strukturen einer Gesellschaft im beginnenden 21. Jahrhundert nicht zurichten.
Auf dieser Basis asozialer Ressentiments verschwindet im Nu jegliches Rechtfertigungsgebot für individuell-deviantes oder gar kriminell-gewalttätiges Verhalten. Alles ist möglich. Mir ist alles möglich. Es gibt keinen Zusammenhalt mehr, weil es keine Regeln mehr gibt. Keine Regeln fürs Verhalten. Keine Regeln für die Sprachverwendung. Keine Regeln für die Kommunikation. Keine Regeln fürs Auftreten im öffentlichen Raum. Einzig die Ellenbogen bleiben regelhaft. Als Instrument individuellen Fortkommens. Vorgelebt zunächst im ökonomischen Segment der Gesellschaft, sozusagen als Marktgesetz. Was mir und den meinen, meiner Firma, meiner Familie, meiner gesellschaftlichen Schicht nutzt, ist gut. Zu studieren ganz aktuell beispielsweise an der bundesdeutschen Fleischwarenindustrie. Zuvor an der Automobilindustrie. Davor an der Energiewirtschaft. Selbst im politisch-gesellschaftlichen Bereich offenbar, wenn ein Minister sich nicht an Recht und Gesetz hält, sondern seine Maut nach eigenem Gusto regelt. Wenn vermeintliche Respektspersonen Kinder mißbrauchen, wenn Dissertationen abgeschrieben werden, wenn Politiker bewußt mit Gossensprache an niedrigste Instinkte appellieren, wenn es nur um das „eigene ich“ geht, um Gier, um Reputation, Macht oder Geld, nicht um Zivilität, Werte, Gesellschaft, Zusammenhalt, Humanität und Empathie.
Im Argen liegt, so gesehen, unsere Produktions- und Lebensweise. Von der im übrigen sehr viele Menschen wissen oder ahnen, daß sie im gegenwärtigen Zustand nicht erhalten werden kann. Wir müssen uns wieder einen zuvörderst sozialen und nicht ökonomischen Blick auf die Bildungsinstitutionen leisten, auf Sozialeinrichtungen, das Gesundheitswesen, die Daseinsfürsorge. Für derartige gesellschaftliche Sphären ist globalisierte Produktion, sind weltweite Regeln keine adäquate Antwort. Der Blick auf Arbeitsplätze alleine, auf Umsätze, Profite und Wachstum, ohne zudem auch Ökologie oder die Klimaentwicklung zu berücksichtigen, führt in die Irre. Das alles ist die Weisheit der Binse. Und auch nicht revolutionär.
So wenig revolutionär wie Gewalt gegen Polizisten. Gleich ob sie von rechtem oder vermeintlich linkem Mob, vom Club- und Partymob oder vom Pegida- oder Aluhutträgermob ausgeübt wird. Links von links ist rechts. Mangelnder gesellschaftlicher Durchblick, fehlende Bildung, verlorener Anstand, nicht erworbene Erziehung, übersteigerte Ichbezogenheit, unangemessene Ausdrucksweise können nicht von subjektiv als „links“ empfundener Gesinnung ausgeglichen werden. Da liegt etwas im Argen.