Die „rein virologische“ Sicht

VON WOLFGANG HORN

„Beenden Sie die einseitige Fixierung auf eine rein virologische Sichtweise und damit das gefährliche Spiel mit den Zukunftschancen dieses Landes.“ So zu lesen in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin sowie an die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder. Die „rein virologische Sicht“ ist also ein „gefährliches Spiel mit den Zukunftschancen“ des gesamten Landes. Aus der vermeintlich „rein virologischen Sicht“ folgen die vielen Einschränkungen des gewohnten Alltagslebens, die Hygienemaßnahmen, die Restriktionen an den Arbeitsplätzen sowie die massiven Beschränkungen des Ausgangs und zwischenmenschlicher Kontakte, die in den letzten Wochen vom Bund, den Ländern wie auch den Kommunen angeordnet worden sind, um die weltweite Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, um einen massenhaften Krankheitsausbruch zu verhindern, um das Leben von gefährdeten Bürgerinnen und Bürgern zu schützen. 

Worum gehts? Es geht um Leben und Tod, so neulich noch der Nordrhein-westfälische Ministerpräsident Laschet. Es geht um die Zurückdrängung eines sich weltweit ausbreitenden Virus, gegen das es derzeit weder ein wirksames Medikament gibt, noch einen tauglichen Impfstoff. Die ganze Gesellschaft wird so lange mit den Beschränkungen des Alltags- und Arbeitslebens und der Reduzierung der Kontakte umgehen müssen, bis Medikamente und Impfstoffe gefunden sind. Die Vorsichts- und Schutzmaßnahmen dienen der Gemeinschaft, dem Gemeinwohl, der Gesundheit und dem Leben der Menschen. 

Wirtschaftliche Interessen, Ansprüche von Teilgruppen der Gesellschaft, des Sports etwa, der Gastronomie, der Unterhaltungswirtschaft, der Kultur oder Kunst behalten ihre Bedeutung für das Gemeinwesen, müssen aber zeitweilig hinter die Notwendigkeit des Schutzes von Leib und Leben zurücktreten. Den Regierenden bleibt eigentlich keine andere Wahl. Alle, die nach Lockerung oder Abschaffung der erlassenen Maßnahmen rufen, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob der Lebensschutz wirklich hinter ökonomische oder andere partikulare Interessen zurücktreten soll.

Ich bin dagegen froh, daß hierzulande eine Regierung arbeitet, die sich offenkundig müht, die teils widerstrebenden Interessen auf je unterschiedliche Weise zu bedienen, wobei der Hauptaspekt ihres Handelns erkennbar der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ist. Die in dieser Größenordnung unvorstellbaren Finanzmittel, die Bund und Länder sehr schnell zur Unterstützung von Unternehmen, Arbeitnehmern und Selbständigen bereitgestellt haben, belegen doch, daß das Handeln der Regierenden keineswegs von einer verengten “rein virologischen Sicht“ bestimmt ist.

Die öffentliche Debatte und die veröffentlichte Meinung werden nicht zuletzt auch durch öffentlich gut plazierte Meinungsäußerungen von Interessengruppen mitbestimmt. Wer ökonomische und die Interessen von Unternehmen gegen eine „virologische“ Sicht positioniert, also gegen die Erkenntnisse von Wissenschaft und Medizin, beteiligt sich an der Diskreditierung, mindest aber Schwächung der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissenschaft und Forschung und an einer Abwertung von Eliten, auf die das Land, das Gemeinwesen so dringend angewiesen ist. 

Die gesellschaftliche Krise, in die das Land und die ganze Welt durch das Virus geraten sind, sollte auch eine Chance sein, die Ökonomisierung so vieler Lebensbereiche wieder in Frage zu stellen. Der Markt regelt eben alleine nicht, daß allen Menschen eine gleich gute Bildung zukommt. Müssen Krankenhäuser und Pflegeheime, Altersheime und Hospize, Ärztehäuser und Spezialkliniken, Kurheime und Rehabilitationseinrichtungen Profit abwerfen? Die Wasser- oder Energieversorung muß dem Gemeinwesen dienen, nicht partikularen Unternehmensinteressen. Das gilt gleichermaßen für den öffentlichen Personennah- und Fernverkehr.

Die Globalisierung wird sich nicht zurückdrängen lassen können. Gottlob. Aber muß beispielsweise die Produktion von Medikamenten, die von Textilien, auch solchen, die als Schutz im Gesundheitswesen dienlich sind, von Schutzmasken, von Energieträgern, Batterien, Maschinen und Gerätschaften der Medizintechnik wirklich nur dort stattfinden, wo die Menschen ihrer Armut wegen zu Arbeit gegen allergeringste Entlohnung gezwungen sind? Werden wir nach der Krise nicht auch wesentlich ernsthafter über ökologische Fragestellungen und das weltweite Klimageschehen debattieren müssen?

Ach ja: Der offene Brief wurde vom Bundesverband mittelständischer Wirtschaft / Unternehmerverband Deutschlands e.V. (BMVW) an Kanzlerin und Landesregierungen versandt. Mit der deutlichen Aufforderung, „dass künftig die Erfordernisse der Wirtschaft in Ihrer Corona-Politik einen deutlich höheren Stellenwert erhalten als bislang.“

Kann man einer christdemokratisch geführten Bundesregierung wirklich Unternehmens- und Wirtschaftsferne unterstellen? Absurd. Hier wird der Versuch unternommen, mit der Angst vor ökonomischen Verlusten und dem Niedergang einzelner Unternehmen und der Arbeitsplätze Politik zu gestalten. Normalerweise hört man aus dieser gesellschaftlichen Region eher den Ruf nach „Staatsferne“, nach Befreiung der Märkte, die alles schon regeln würden. In der Krise ist der Staat als Retter indes willkommen. In der Krise soll der Staat wirtschaftliche Interessen absichern. In der Krise gibt es keine Staatsferne. 

Der Bundesverband mittelständischer Wirtschaft / Unternehmerverband Deutschlands e.V. (BMVW) hat sich einen zweiten Versuch durchaus verdient.

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