Oder wie die Politik zur Paragraphenreiterei mißrät
VON WOLFGANG HORN
Politik ist mehr als die Kunst, Gesetze, Paragraphen, Verordnungen zu verstehen und sie auszuloten. Die Fähigkeiten der Rechtsgelehrten sind wichtig für das Zusammenleben der Menschen, für die Einhaltung von Ordnung, für die Lösung von Konflikten. Aber: Juristen alleine können das gedeihliche Zusammenleben nicht sichern. Hier ist vor allem die Kunst, das Vermögen der Politiker gefragt. Politiker entscheiden über das Grundlegende und über Einzelheiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie geben die Ordnungen vor, die andere, auch Rechtsgelehrte, abzusichern haben.
Politik ist mithin nicht nur kluge und sachgerechte Beratung und Entscheidung. Politik ist immer auch der Kampf um Menschen, Streit um Interessen, das Ringen um Mehrheiten, die Suche nach Einfluß. Und: Politik ist auch das Setzen von Zeichen, das Sichtbarmachen von Problemen und Lösungen, das Aufzeigen von Werten und die universelle Geltung von Menschlichkeit und Menschenrechten. Politik ist Kommunikation, Gespräch, nicht Verpanzerung, nicht Unverbindlichkeit, nicht Geltung alleine. Auf allen Ebenen. Auch auf der der Kommunalpolitik.
Wenn nun Teile der Politik, zwei Fraktionen im Rat der Stadt, SPD und Bündnis90/Die Grünen, ein Zeichen setzen wollten gegen den Verlust der Menschlichkeit in Europa, an seinen Grenzen, dort, wo Fremde Hilfe suchen vor Not und Verfolgung, dann kann die angemessene Antwort nicht allein der Verweis auf Paragraphen sein.
Ich bin ganz sicher, daß beide Fraktionen nicht auch nur einen Moment lang davon ausgegangen sind, daß die Verwaltung sich nicht an Recht und Gesetz halten könne oder solle. Im Gegenteil. Insoweit trifft der Einwand des Bürgermeisters den Kern der Angelegenheit nicht. Es geht darum, Menschlichkeit walten zu lassen angesichts der Unmenschlichkeit der politischen und sozialen Zustände, angesichts des unverschuldeten Elends einfacher Menschen. Das ist nicht alleine eine Frage oder Aufforderung an die Verwaltung der Stadt, an den Bürgermeister. Es ist vor allem eine Frage und Aufforderung an jene, die für sich in Anspruch nehmen, das Gemeinwesen zu gestalten, Haltung zu zeigen, ein Menschenbild, ein christliches zumal, in der Gesellschaft offensiv zu vertreten. Es geht um ein Zeichen der Empathie. Es geht darum, Menschen mitzunehmen auf dem Weg, Verantwortung für Krieg, Armut, Hunger oder Elend zu spüren und zu übernehmen. Es geht darum, die Würde des Menschen, aller Menschen, zu achten. Es geht darum, das “Wir” und “Die” zu überwinden. Es geht um Hilfe. Schlichtweg.
Wer Hilfe verweigert, weil er aus dem Gestrüpp der Paragraphen den Weg zurück zur Politik nicht findet, macht sich mitschuldig. Nicht im Sinne von Paragraphen. Im Sinne von Politik und menschlichem Handeln. Man kann sich aber hinter Paragraphen auch nur eine begrenzte Zeit lang verstecken. Irgendwann müssen auch juristisch ausgebildete Politiker politisch Farbe bekennen. Bin ich für oder gegen menschliche Hilfe? Erkenne ich im notleidenden Fremden meinen Bruder, meine Schwester? Reiche ich meine, reichen wir unsere Hand?
Gestern sind im Rat der Stadt Zeichen verweigert worden. Von einer vermeintlich bürgerlichen Mehrheit. Zeichen für Menschenwürde. Es ist keineswegs bürgerlich, Zeichen immer nur dann zu setzen, wenn es um weniger Zuzug geht, um weniger Fremde, um weniger Asyl, um weniger Hilfe. Mehr für uns und weniger für andere, Make Wermelskirchen great again, ist keine Politik. Nicht einmal kümmerlicher Politikersatz.
Der Kommentar lässt es diesmal an intellektueller Schärfe vermissen: Paragrafenreiterei versus Menschlichkeit und Mitgefühl, das ist mir zu platt und verunglimpft auch jene, die die Situation in den Flüchtlingslagern unerträglich finden und ein ethisch-moralisches Versagen der EU beklagen, aber die Lösungsansätze dazu erst in zweiter Linie auf der kommunalen Ebene sehen. Die Kommunen werden unterbringen und betreuen, aber sie entscheiden nicht über die Verteilung. Diesen Fakt ignoriert der Beitrag. Was sind denn Rechtsvorschriften anderes als in Paragrafen gegossene Politik? Die darin festgeschriebenen Interessen kann man gutheißen oder ablehnen. Aber sie stehen in einem Rechtsstaat (!) nicht zur Disposition.
Da wir keine Besucher der Ratssitzung am 10.03.2020 waren, sind wir auf die Berichterstattung unserer Zeitung, BM vom 11.03.2020 angewiesen. SPD und Grüne stellen einen Antrag, den bereits viele Kommunen in Deuschland in die Tat umgesetzt haben:
Minderjährige unbegleitete flüchtende Kinder aufnehmnen zu wollen, wenn die rechtlichen Bedingungen von Seiten der Bundesregierung vorliegen und städtische Ressourcen für eine Aufnahme tatsächlich vorhanden sind (selbstverständlich nach Zuweisung durch die BR Arnsberg).
Der Rat der Stadt hätte an dieser Stelle, die Chance gehabt im Voraus ein Zeichen der Menschlichkeit zu signalisieren, als Vertreter der “Kleinstadt mit Herz”.
Zynisch und zugleich unverständlich ist die Entscheidung der Ratsmehrheit, das o.e. Ansinnen auf die Frage der Zuständigkeit zu reduzieren.