VON WOLFGANG HORN
Ein Viertel aller Wähler hat bei der gestrigen Wahl nicht nur AfD gewählt, sondern den bundesweit bekanntesten Exponenten des sogenannten “Flügels”, des rechten Flügels der AfD, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird und der das Scharnier der gesamten Partei zu den Rechtsextremen bildet, Björn Höcke. Höcke, den man nach einer richterlichen Entscheidung als Faschisten bezeichnen darf, marginalisiert den Holocaust und hat die Westmächte bezichtigt, die Deutschen mit “Stumpf und Stiel” ausrotten zu wollen. Natürlich gibt es auch im Westen Deutschlands ein Problem mit dem Rechtextremismus. Gleichwohl wäre in den alten Bundesländern derzeit ein derartiges Wahlergebnis wie gestern in Thüringen (noch) nicht möglich.
Es ist hohe Zeit, daß sich die CDU von der Ideologie der Äquidistanz zu linken und rechten Parteien verabschiedet. Die Wirtschaftswoche schrieb: “Der entscheidende Unterschied zwischen der Linken und der AfD ist: Jene ist in sehr weiten Teilen eine staatstragende Partei, diese nicht. Jene will integrativ etwas für dieses Land erreichen; diese spielt ‘das Volk’ gegen es selbst aus. Jene hat sich zwei Jahrzehnte lang als eine Art Kümmer-CSU des Ostens um die Menschen verdient gemacht; diese hetzt sie auf. Scharfe Kritik in der Sache: immer gern, meist leider sehr angebracht. Aber bitte, liebe CDU: Schluss endlich mit der pauschalen Rote-Socken-Diffamierung der Linken.” D’accord. Wer die Linken unter Ramelow für so extremistisch erklärt wie die Höcke-AfD, der verteidigt keine „demokratische Mitte“, sondern normalisiert und bagatellisiert Rechtsextremismus.
Wann, wenn nicht jetzt, nach den Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern, wird sich die SPD endlich aus der großen Koalition im Bund verabschieden? Zusammen hat die “große” Koalition in Thüringen jetzt noch etwa 30%. Es gibt keine Grenze nach unten. Auch nicht für eine Partei, die 150 Jahre auf dem Buckel und alles schon einmal erlebt hat.
Der Wähler hat entschieden. Jetzt ist es an den Parteien, das Wahlergebnis umzusetzen. Was spricht gegen eine Minderheitsregierung? Außer, daß man mit so etwas in Deutschland kaum Erfahrungen hat, anders als in Nachbarstaaten. Was spricht gegen eine Zusammenarbeit von Schwarzen und Roten? Außer, daß die Schwarzen noch nicht über ihren Schatten gesprungen sind und (noch) ein historisch und politisch überlebtes Feindbild konservieren. Was spricht gegen eine Regierungsbeteiligung der FDP? Außer der FDP selbst, die sich gestern Abend schon an ihren Vorwahlspruch geklammert hat, daß man nur die Regierung ablösen wolle? Immer noch lieber nicht regieren? Ach Gott.
Die Wähler der AfD als Protestwähler zu verharmlosen, als “besorgt” oder “wütend” zu verniedlichen, wird der politischen Gefahr durch das Wahlergebnis nicht gerecht. Wer gestern AfD gewählt hat, hat dies in voller Kenntnis der politischen Positionen dieses Landesverbands und seines Spitzenkandidaten getan. Protest wäre in Ordnung. Haß auf keinen Fall. Opposition und Kritik sind gut. Die Diffamierung der Demokratie und ihrer Institutionen, der Politiker und Parteien, der Medien schwächt hingegen die parlamentarische Demokratie. Ernst Wolfgang Böckenförde, Staatsrechtler und ehemaliger Verfassungsrichter, hat ausgeführt, daß die Demokratie von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann. Wenn sich nach den 24 Prozent gestern dermaleinst 51 Prozent gegen die Demokratie entscheiden, wird sie abgeschafft. Die AfD hat mit Demokratie, mit Meinungsfreiheit, mit liberaler Weltoffenheit nichts am Hut. Sie haßt Andersdenkende, hetzt gegen ethnische, soziale, religiöse und politische Minderheiten, wird geleitet von einem rückwärts gewandten völkisch-nationalistischen Weltbild und ist außerstande, Lösungen für die komplexen Zukunfts- und Entwicklungsprobleme der Gesellschaft zu entwickeln.
Lieber Wolfgang Horn,
ich verstehe und teile deinen Kommentar zur Landtagswahl in Thüringen weitgehend, meine aber, vor allem deine Schlußzeilen greifen zu kurz und beschreiben die gesellschaftliche Situation, so wie ich sie verstehe, die Wirkung und die Absichten der afd, aber auch der wnkuwg hier am Ort unzureichend und “ins Leere greifend”.
Kern der Problematik ist m.A.n. die sich anbahnende globale Katastrophe, gemeinhin “menschengemachter Klimawandel” genannt. Darauf reagieren die Menschen, die politischen Parteien in unterschiedlicher Weise :
Die einen, bes. “Fridays for Future”, “Extinction Rebellion”, die Grünen und viele weitere gesellschaftliche Akteure, erheben warnend bzw. fordernd ihre Stimme, erwarten die Übernahme von Verantwortung für das gemeinsame “Raumschiff Erde” und leisten dies auch selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten.
Andere, die breite gesellschaftliche Mehrheit oder auch “Mitte”, repräsentiert durch unsere Bundesregierung, sehen das Katastrophen-Szenario weniger rigoros, weniger dramatisch und erscheinen in ihren diesbezüglichen Aktivitäten der o.g. Gruppe zaudernd, zögerlich, halbherzig, unentschlossen. Darin spiegelt sich einerseits die tiefe Verunsicherung dieser Gruppe und dementsprechend die mangelhafte Akzeptanz für entschlossene Eingriffe, andererseits der Wille zur Besitzstandswahrung, zur Verteidigung des erreichten Lebensstiles und der erreichten Lebensqualität – auch auf Kosten künftiger Generationen ?
Die Fragestellung nach dem “guten Leben” ist m.A.n. in dieser Gruppe unterentwickelt, wofür ich großes Verständnis habe, hat doch besonders die “Generation 60+” andere Zeiten erlebt : Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit, Hunger und Kriegsgeschehen, sicher nicht im selben Maß wie die Generation ihrer Eltern, aber immerhin die Nachwirkungen (Trümmer und Besatzungsmächte) und die Drohung (“Kalter Krieg” und atomare Aufrüstung). Ein gutes Stück weit gilt für diese Gruppe das Brecht-Wort : “Erst kommt das Fressen; dann kommt die Moral.”
Freiwilliger Verzicht (“Kein Auto mehr ? Kein Kotelett mehr ? Keine Flugreise mehr ?”) wird in dieser Gruppe mindestens auf Bedenken, auf Ängste und auch auf Widerstand stoßen.
Letzteres macht sich eine weitere, sehr kleine Gruppe zunutze. Unabhängig von gesellschaftlichen Erfordernissen und frei von Verantwortung außer für das persönliche Wohlergehen schürt sie Ressentiments und Ängste, um als (scheinbarer) Träger des Widerstandes gegen als “weltfremd”, “Ökodiktatur”, “Klimawahn” beschriebene Entwicklungen die ihr gläubig zufallenden Wählerstimmen in Macht und Geld umzumünzen.
Es geht dieser Gruppe, der ich die afd, aber auch die wnkuwg zuordne, mitnichten darum, “Lösungen für die komplexen Zukunfts- und Entwicklungsprobleme der Gesellschaft zu entwickeln”; sie verkauft althergebrachte Konzepte als solche Lösungen. Es geht dieser Gruppe schlicht um strategischen Machterwerb, um, einmal in der Rolle des bestimmenden politischen Faktors, alsdann die “demokratische Unsitte der Volkssouveränität” zugunsten eines, ihres hierarchischen Machtapparates abzuschaffen.
Wie solche autokratischen Experimente zu enden pflegen, davon künden dann die Massengräber (hilfsweise auch die Verbrennungsöfen).