Von Fritz Wolf
„Warum es für Muslime so schwer ist, frei zu sein“, so der Untertitel des Films. Es geht um Ehre, um Sexualität und um das, was Barbara Sichtermann, die Rezensentin, ein „Zähmungsprogramm“ nennt. (Phoenix, Sa 01.04.2017, 22.30-00.00)
Der Film beginnt mit der Einstellung auf ein seltsames Gebilde, das man beziehungsweise frau im Internet ordern kann. Es sieht auf den ersten Blick aus wie eine Gewebeprobe und ist nichts anderes als eine sorgsam verpackte Blase mit Kunstblut, 50 Euro das Stück. Es geht darum, so der Anbieter, „in der Hochzeitsnacht Blut auf dem Laken zu haben“, ohne dass die Braut sich das Jungfernhäutchen zuvor rekonstruieren lassen muss. Sie führt einfach eine halbe Stunde vor dem Verkehr das Bläschen ein. Wie kann es sein, fragt sich die Filmemacherin Güner Yasemin Balci, dass nach einem solchen Hilfsmittel eine rege Nachfrage besteht? Wer bestellt diese Bläschen?
Und warum? Die Fragen, die sich anschließen, sind vielfältig, und sie führen weit zurück in die Geschichte, bis ins Jahr1000, als ein islamischer Rechtsgelehrter mit Namen Al-Ghazali sein „Buch der Ehe“ schrieb, aus dem im Film vorgelesen wird und dem zufolge es die Ehre einer Familie zerstört, wenn eine Frau vor ihrer Verheiratung in den Armen eines Mannes liegt. All die anderen Bestimmungen, die Bindung der Frau ans Haus und die Verhüllungsvorschriften, wenn sie dann doch mal vor die Tür treten muss, folgen daraus. Man könnte es ein Zähmungsprogramm nennen. Was da gezähmt werden soll, ist die weibliche Sexualität. Dass Männer durch solche Herrschaftsformen auch ihre eigene Lust und Liebe beschädigen, versteht sich von selbst.
Erklärungsbedürftig ist nicht, dass vor tausend Jahren ein solches Kompendium zur Unterdrückung der Frauen und der Sexualität überhaupt im Islam kodifiziert wurde, erklärungsbedürftig ist, dass es (bereichsweise) immer noch gilt. Ferner: dass die Eliten im arabischen Raum den Zusammenhang nicht sehen zwischen solcher Art mittelalterlicher Freiheitsberaubung und technologischer, sozialer und politischer Rückständigkeit, die in den Ländern, in denen solche Repression vorherrscht, das Leben schwer macht. Es heißt ja, dass die Scheichs, Mullahs und Diktatoren, die sich in jenen Ländern an der Macht befinden, vielfach gar keine religiösen Überzeugungstäter seien und den Islam nur benutzten, um ihre Macht ideologisch zu legitimieren. Sie sollten sich eine Legitimation überlegen, die mit technischem und politischem Fortschritt vereinbar ist. Dazu gehört in erster Linie die Befreiung der Frau aus Hauskäfig und Verhüllung.
Solche Aspekte lässt der Film nicht anklingen. Das wäre wohl auch zu viel verlangt. Dennoch bleibt schlussendlich ein Gefühl der Vergeblichkeit und des Déjà-vu – man kennt das alles, hat es vielleicht schon zu oft gesehen und gehört. Jetzt ist die Zeit gekommen, um ein paar Konsequenzen zu ziehen. Abgesehen von der „sexuellen Revolution“, die Protagonistin Seyran Ates, bekannt aus den Medien als unerschrockene muslimische Rechtsanwältin, fordert, abgesehen von ein paar Auftritten der Aktivistinnen von „Femen“, die aus der Ukraine stammen und keine Musliminnen sind, wurden keine Auswege gewiesen.
Stattdessen immer wieder das Unglaubliche: In Berlin wurde Ates in ihrer Beratungsstelle angeschossen, weil sie sich für Unabhängigkeit von Frauen einsetzt. Der Schütze fühlte sich offenbar schon beim Gedanken an eine Frau, die ihren eigenen Weg geht, in seiner Ehre verletzt. Ates erklärt, auf ihre Frage: „Was ist Ehre?“, habe sie nie eine schlüssige Antwort bekommen. In Paris eifert ein bärtiger Muslim mit Schaum vorm Mund gegen Miniröcke. Und ein fortschrittlicher Moschee- Direktor dort erklärt: Die Frau gelte im Islam als Satan, das Frauenbild der meisten Muslime sei „krank“, ihre eigene sexuelle Identität auf der Stufe eines Kleinkindes steckengeblieben.
Bei Schüler-Umfragen in Neukölln erklären Jungs eine bereits „berührte“ Frau als Braut für unmöglich – sie würden sich ekeln. Ferner finden sie den Fehltritt, den ihre Schwester beginge, wenn sie Sex vor der Ehe hätte, weit gravierender als wenn ihr Bruder mit Drogen dealte. Ahmad Mansour, auch aus dem Fernsehen bekannter Psychologe israelisch-palästinensischer Herkunft, übt mit Jungs per Rollenspiel, wie befreiend es sein kann, die Notwendigkeit der Kontrolle weiblicher Familienmitglieder zu hinterfragen. Er erzählt viel aus seinem eigenen Leben. Davon, wie schwer es für ihn war, die Gleichberechtigung zu akzeptieren. „Man muss sich gegen die ganze eigene Kultur positionieren.“ Das dauere lange. Er selbst hat es geschafft und wirkt jetzt als Aufklärer unter Jugendlichen und in den Gemeinden, auch er hat ein Buch veröffentlicht: „Generation Allah“.
Die Filmemacherin Balci wuchs in Neukölln auf – unter der Obhut in der Moderne angekommener Eltern, die sie nicht an ihrer Entfaltung hinderten. Sie ist eine Ausnahme. Damit das nicht so bleibt, muss geschehen, was Seyran Ates eine „sexuelle Revolution“ nennt (sie hat zu diesen Fragen ein Buch veröffentlicht). Aber wie geht das? Der gute Willen allein reicht nicht, auch nicht die eher schnippischen Reaktionen von jungen Mädchen im Film, die kein Kopftuch tragen und sich gegen Jungs, die ihnen das Recht auf Freiheit absprechen und sie unter Druck setzen wollen, mit dem Hinweis verteidigen, sie, die Jungen, feierten doch auch. Das ist alles viel zu kleinteilig, zu defensiv, zu vereinzelt. Was Mansour mit den Jungengruppen macht, geht schon weiter. Aber es reicht natürlich auch nicht. Für eine Revolution sind kollektive Durchbrüche nötig, getragen von Mehrheiten, und die Frauen könnten mal anfangen. Wir alteuropäischen Feministinnen können da leider nur sehr wenig tun. Die Wut muss von innen kommen, aus den Herzen und Bäuchen der Bräute, die ein Kunstblutbläschen im Netz bestellt haben und beim Auspacken dann doch mal seufzen: „Das kann doch alles nicht wahr sein.“ Und die Hochzeit absagen. Balcis nächster Film sollte es wagen, ein derartiges Szenario heraufzubeschwören.