“In Dokumentarfilmen”, so heißt es am Ende des nachfolgenden Beitrages, gehe es “um Haltung und um Wahrhaftigkeit. Und beides braucht unsere Gesellschaft wie die Luft zum Atmen.” Und: Ein Land ohne Dokumentarfilme sei wie eine Familie ohne Fotoalbum. In einer großen Rundumbetrachtung wendet sich Fritz Wolf der derzeitigen Lage des Dokumentarfilms zwischen Fernsehen und Kino zu.
Von Fritz Wolf
Dokumentarfilme werden nur noch selten wahrgenommen. Die Sender haben sie ihrem Publikum geradezu abgewöhnt und gehen sehr mit ihrem Programmvermögen um. Kaum noch jemand weiß, wo und wann man überhaupt Dokumentarfilme sehen kann. Die Programmkinos scheinen auch die Lust verloren zu haben, das Genre für ein filmaffines Publikum zu pflegen. Ein wenig sind Dokumentarfilme in der visuellen Kultur so etwas wie der Jazz in der Musik: Außenseiter, ein Fach für Liebhaber und Kenner. Aber warum ist das so?
Zum Zeitpunkt, da dieser Text geschrieben wird, ist noch Sommerzeit. In der ARD heißt das: wenn die Talkshows Urlaub machen, finden die Programmplaner auch mal ein Plätzchen für Dokumentarfilme und zwar zu einer Sendezeit, die arbeitende Menschen noch grade noch mitmachen könnten. In diesem Jahr hat der SWR ab dem 21.Juli vier Dokumentarfilme ins ARD-Programm gehievt, die sich jetzt schon wieder versendet haben. Am 24.August konnte man auch „10 Milliarden – Wie werden wir alle satt“ von Valentin Thurn sehen, der ein großer Kinoerfolg war. Auf einen Nachzügler, „Titos Brille“, einen großartigen Film von Regina Schilling kann man hier grade noch hinweisen (19.9.2016, 22.45). Danach sieht es wieder schlecht aus mit attraktiven Sendeplätzen.
Was ist los? Warum mag das Fernsehen Dokumentarfilme nicht, obwohl es sich doch zu großen Teilen finanziert? Und verlangt wenigstens das Publikum danach? Leider nein. Die Kinos werden nicht gerade gestürmt, wenn die Arthouse-Kinos dokumentarische Kost anbieten. Und die wiederum programmieren gern am Sonntag Nachmittag. Inzwischen muss man zusehen, überhaupt einen Film noch rechtzeitig zu erwischen, ehe er wieder aus dem Programm verschwunden ist.
Gut, ein paar Gegenbeispiele könnte man auch nennen. „Seefeuer“ zum Flüchtlingsthema etwa, der auf der Berlinale 2015 den Goldenen Bären bekam, hielt sich einige Wochen in den Programmkinos. „Citizen four“ über den Whistleblower Edward Snowdon, wurde im Fernsehen so häufig wiederholt, dass ihn kaum ein Interessierter verpasst haben dürfte. Weniger bekannt: Klaus Sterns Film „Der Versicherungsvertreter“ über den alerten, quicken Versicherungsbetrüger Mehmet Göker wurde so oft wiederholt , dass er am Ende 3,7 Millionen Zuschauer erreicht hatte. So manche Prime-Time-TV-Show würde sich nach solchen Zahlen die Finger lecken. Was auch bedeutet: Dokumentarfilm sind gar nicht mit den Quotenmaßstäben zu messen wie etwa die Schnellschuss-Check-Dokus zu bester Sendezeit: kaum gesehen – schon vergessen. Dokumentarfilme dagegen sind Langstreckenläufer. Man könnte auch sagen: nachhaltiges Programm.
Selbst der Wetterbericht ist teurer
Also alles gar nicht so schlimm? Wieder einmal zu früh gerufen, der Dokumentarfilm sei eigentlich schon tot. Alle paar Jahre wieder hört man diesen Ruf. Und das Genre lebt immer noch. Trotzdem scheint Optimismus nicht angebracht. Hier zunächst ein paar Zahlen.
Etwa 80 lange Dokumentarfilme werden jährlich in Deutschland jährlich gedreht. Manche laufen nur auf Festivals, andere nur im Kino, viele im Fernsehen, spät. Fast alle sind auf diversen Wegen vom Fernsehen finanziert. Üppig ist diese Finanzierung wahrlich nicht, das zeigt sich an der sozialen Lage der Filmemacher. Eine Studie der AG Dokumentarfilm (AG Dok) , einer Interessenvertretung der Dokumentaristen, hat vor vier Jahren düstere Zahlen ermittelt. Dokumentarfilmer verdienen im Durchschnitt 2183 Euro brutto monatlich, das macht netto 1380 Euro. Dafür würden fest angestellte Redakteure ihr Funkhaus nicht einmal betreten. Und die Lage ist seither nicht besser geworden.
Aus der Perspektive der Programmkosten sieht die Sache nicht besser aus. Die AG Dok hat errechnet, dass grade mal 0,16% der Gebühren auf Dokumentarfilme entfallen. Der Sport bekommt, um eine Relation zu nennen, 25%. Der Medienforscher Jörg Langer nennt Dokumentarfilme eine effiziente Programmform. Mit einem Euro Programminvestition erreichen Reportagen in der ARD 62 Zuschauer, die Serie „In aller Freundschaft“ erreicht 24 , ein Dokumentarfilm wie „My Escape“ fünf – und die WM 2014 erreichte nur drei Zuschauer. Lakonisch merkte ein Diskutant auf der Münchner Dokumentarfilmwoche an, selbst der Wetterbericht sei teurer als Dokumentarfilme.
An den Kosten kann es also nicht liegen, dass die Liebe der Sender so kalt geblieben ist. Liegt es vielleicht an der Machart? Es soll ja Leute geben, denen fällt zum Thema Dokumentarfilm nur ein: Schwarzweiß, Wackelkamera, Tierfilm. Ein Quotenknüller sind Dokumentarfilme tatsächlich nie gewesen – aber wie zum Beispiel die Schweiz oder Österreich zeigen, hat dort das Genre ein viel besseres Ansehen und ein größeres Publikum.
Vielfältiger als fiktionale Filme
Die Wirklichkeit jedenfalls ist: Dokumentarfilme sind so unterschiedlich wie ihre Macher. Die Bandbreite der Stilmittel hat sich enorm verbreitert. Mancherorts bedienen sich die Macher auch der Erzählmittel des Animationsfilms wie etwa Ala Samadi Ahadi In „The Green Wave“ über die Proteste gegen die Wahlfälschungen im Iran 2009. Häufig wählen Dokumentaristen dramaturgische Kniffs aus dem Krimi. Mehr als früher sagen sie heute als Erzähler ganz entschieden Ich. Manche greifen direkt ins Geschehen ein wie Joshua Oppenheimer in „The Act of Killing“; er bringt in Indonesien Massenmörder zum Sprechen, indem er sie ihre Taten vor der Kamera spielerisch nachstellen lässt.
Andere wie der irakischstämmige Schweizer Regisseur Samir wählte zum Beispiel für seine Familiengeschichte „Iraqi Odyssey“ eine komplexe, verschachtelte Erzählweise, um die komplexe historische Situation erfassen zu können, Wir finden essayistische Filme wie „Stadt“ von Timo Großpietsch, ein Hamburger Stadtporträt. Oder eine klassisch recherchierende Arbeit, bewusst in Schwarz-Weiß gedreht, wie „Democracy – Im Rausch der Daten“; der Schweizer Regisseur David Bernet beschreibt hochspannend das politische Kräftemessen in Brüssel im Kampf um angemessenen Datenschutz. Autoren wie Ulrike Franken und Micheal Loeken nehmen uns über über einen Zeitraum von fünf Jahren mit in den Prozess des Kulturwandels, , wie in Dortmund auf dem Gelände eines Stahlwerks ein Freizeitgebiet entsteht: „Göttliche Lage“. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Wie auch immer man es dreht und wendet: Dokumentarfilme sind ein enorm vielfältiges und spannendes Genre, reichhaltiger als der deutsche Fernsehfilm oder gar der TV-Krimi, der seit Jahren wie auf Schienen durchs Programm läuft.
Das Dumme daran: Es hat sich nicht herumgesprochen.
Dokumentarfilme werden nur noch selten wahrgenommen. Die Sender haben sie ihrem Publikum geradezu abgewöhnt und gehen sehr nachlässig mit ihrem Programmvermögen um. Kaum noch jemand weiß, wo und wann man überhaupt Dokumentarfilme sehen kann. Die Programmkinos scheinen auch die Lust verloren zu haben, das Genre für ein filmaffines Publikum zu pflegen. Ein wenig sind Dokumentarfilme in der visuellen Kultur so etwas wie der Jazz in der Musik: Außenseiter, ein Fach für Liebhaber und Kenner. Aber warum ist das so?
Woran liegt’s? Sender, Produktionswirtschaft, Förderpolitik
Drei medienpolitische Gründe lassen sich nennen. Da ist einmal die Rolle der Fernsehsender. Sie behandeln das Genre schlecht. Den Programmmachern gelten sie als Quotenkiller. Im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte sind sie systematisch an den Rand des Programms und in die Kulturprogramme Arte und 3Sat geschoben worden. Das Fernsehen hat stattdessen die Dokumentation und das Feature protegiert. Dokumentarische Sendungen wurden formatiert, also strengen Bauregeln und Dramaturgien unterzogen. Dafür hat sich das Kunstwort Doku eingebürgert und als Doku gilt im Fernsehen leider inzwischen alles Dokumentarische. Wie auch die unaufhörlich sprudelnden verbraucheraffinen Check-Dokus für Alltag und Lebenshilfe. Das einzige Produkt, das noch nicht dem flotten Check unterzogen worden ist, sind die Fernsehprogramme selber.
Die wissenschaftlichen Programmforschung spiegelt die Entwicklung wieder. „media-perspektiven“, von der ARD finanziert, weisen Dokumentarfilme als Genre nicht extra aus.. Aber sie zeigen, als ein Signal, dass der Anteil von Reportagen, Dokumentationen und Berichten bei ARD und ZDF seit Jahren langsam, aber kontinuierlich abnimmt. Die öffentlich-rechtlichen Sender setzen auf Fiktion, auf Fernsehfilme und Krimis, Serien und Reihen. Dass die Privatsender in den informierenden Genres noch viel weniger tun, ist bekannt und taugt nicht mal mehr als Ausrede.
Vielleicht ist ja auch Ahnungslosigkeit im Spiel. ARD-Programmdirektor Volker Herres antwortete jüngst der Fachzeitschrift „Medienkorrespondenz“ selbstbewusst, die ARD sende im Jahr 12 lange Dokumentarfilm, so viel wie kein anderer Sender sonst. Da hat er recht. Das ZDF hat überhaupt keinen Sendeplatz für das Genre mehr, ausgenommen das Kleine Fernsehspiel, immer nur nach Mitternacht gesendet. Dann fallen dem Programmdirektor als Beispiele aber nur Doku-Dramen ein. Die mögen ja verdienstvoll und gelungen sein – aber es sind keine Dokumentarfilme. Der Programmdirektor weiß offensichtlich nicht einmal, wovon die Rede ist.
Zweiter Faktor ist die Produktionsstruktur. Die deutsche Filmwirtschaft ist zersplittert. Das zeigen seit Jahren die Produktionsstudien von Horst Röper und dem Forschungsinstitut FORMATT. So auch in der jüngsten Untersuchung. Demnach handelt es sich bei den dokumentarischen Langformaten um eine „extrem kleinteilig strukturierte Teilbranche“ mit vielen kleinen Produktionsfirmen. Deren Zahl ist in den letzten Jahren etwa in dem Maße gestiegen, in dem ihr Output gesunken ist. Viele Firmen kämpfen um kleiner werdende Etats. Die Branche kennt die sogenannten „Rucksackproduzenten“, kleine Firmen, die meist nur von den Autoren selbst betrieben werden. Sie produzieren ihre Filme selbst, mit entsprechend knappen Mitteln und bringen kaum mehr als einen Film pro Jahr auf den Markt, wenn überhaupt. Die Anzahl mittelständischer Produzenten dagegen, die auch den internationalen Markt bedienen können, ist sehr überschaubar.
Dritter Aspekt: die Förderpolitik. Wer Dokumentarfilme produzieren will, braucht das Fernsehen. Ohne finanzielle Zusage eines oder mehrerer Sender wird auch keine Filmförderung gewährt. Die Sender wiederum haben ihren Finanzierungsanteil in den letzten Jahren heruntergeschraubt. Es kommt kaum noch vor, dass Sender Filme alleine finanzieren. Vielmehr übernehmen sie nur noch Teilbeträge, in sinkenden Margen. Die Produzenten müssen Senderkooperationen suchen, national oder auch international. Das beeinflusst natürlich auch die Wahl der Stoffe. Mittelständische Produktionsfirmen wie Zero One oder die Gebrüder Beetz setzen inzwischen stark auf international vermarktbare Stoffe, um die Filme refinanzieren zu können.
Zugleich gehört zur Filmförderung auch die Kinoauswertung. Geförderte Filme dürfen zunächst nur im Kino gezeigt werden, erst nach einer gewissen Wartezeit auch im Fernsehen. Das wiederum führt dazu, dass auch Dokumentarfilme gefördert werden, die eigentlich gar nicht das Zeug für einen Kinofilm haben, sondern im Fernsehen viel besser aufgehoben wären. Auch dies mag mit ein Grund sein, weshalb Dokumentarfilme im Kino an Renommee verloren haben.
Problematisch sind die Fördermechanismen. Dokumentarfilme werden behandelt wie Spielfilme, obwohl sie ganz anders entstehen. Spielfilme entstehen nach Drehbuch, Dokumentarfilme entstehen nach dem Drehen am Schneidetisch. Gelder aber werden auf der Basis von Konzeptionen und Thesenpapieren vergeben, schreibt der Dokumentarist Rudi Gaul. Schwer für Dokumentarfilme, bei denen die Suche und die Beobachtung zum Entstehungsprozess gehören. Gaul schreibt vom „Spannungsverhältnis zwischen den Anforderungen an den Produktionsprozess, die das spezifische Wesen des Dokumentarischen aufwirft einerseits (mehr Zeit, Geld, also Risikobereitschaft fuür Recherche, Beobachtung und Schnitt) und den Ansprüchen nach Sicherheit (erst das Konzept, dann die Finanzierung) von Produzenten und Redakteure andererseits.“ Was auch schon dazu geführt hat, dass Redaktionen von Dokumentaristen nicht nur genaue Drehpläne, sondern auch vorformulierte Dialoge verlangt haben.
Kaum noch soziale Themen
Wirtschaftliche und kulturelle Bedingungen wirken sich also unmittelbar auf die Produktion von Dokumentarfilmen aus. Nur wenige prominente Autoren können auch höhere Etats finanzieren, die meisten Filmemacher müssen sich ihren Stoff sozusagen leisten können. Darauf hat der Filmregisseur Andres Veiel auf dem Branchentreff „Dokville“ schon vor Jahren hingewiesen: „Unter den Bedingungen, unter denen sie entstehen, kann sich niemand eine ausgiebige Recherche leisten. Es gibt kaum Filme, die sich mit den eigentlichen Krisen und den Machtverhältnissen des Landes auseinandersetzen, weder gegenwärtig noch historisch. Das ist den Machern nicht vorzuwerfen, sie können unter den gegebenen Produktionsbedingungen sich nicht auch noch in juristische Gefahrenzonen hinein begeben.“
Ein Ergebnis sind thematische Verschiebungen. Die vielleicht derzeit augenfälligste Tendenz ist die Fülle von Filmen, die sich mit Kunst und Künstlern befassen. Künstlerporträts haben Konjunktur. Filme über Joseph Beuys und Peter Handke sind in Arbeit, Filme über Oda Jaune oder Eve Hasse haben im Frühjahr Premiere gehabt. Das Kunsthistorische Museum in Wien stand ebenso unter dokumentarischer Beobachtung wie die Nationalgalerie in London. Hier Filme über die Ballette von Martin Schläpfer und über die Stuttgarter Kompagnie, dort über Sibylle Berg und über Peggy Guggenheim und da wiederum über Amy und über Janis Joplin. Von sechs Filmen, die Mitte September in die Kinos kommen, widmen sich vier einschlägigen Protagonisten: Beatles, Yo Yo Ma, Hieronymus Bosch, Rudolf Thome.
Das kann man natürlich als Zeichen lesen über die wachsende Bedeutung, die Kunst in der Gesellschaft gewonnen hat. „Es freut mich, weil ich Kunst für einen Seismographen der Gesellschaft halte“ sagt WDR-Redakteurin Sabine Rollberg. Man kann diese Tendenz zum Künstlerdokumentarfilm aber auch interpretieren als einen Zug ins Sichere. Man kann mit solchen Filmen wenig falsch machen, eckt nicht an und findet ein aufnahmewilliges Arthouse-Publikum. Sofern die Künstler internationalen Rang haben, liegt natürlich auch eine internationale Produktion und Vermarktung im Blickfeld.
Dagegen sind Filme etwa zu sozialen Themen weitgehend aus der Agenda verschwunden. Als eines der selteneren Beispiele sei hier der Regisseur Jean Bouè genannt, der in den letzten Monaten mit scheinbar „kleinen Geschichten“ aufgefallen ist, etwa über eine Freiwillige Feuerwehr in Brandenburg („Adamshoffnung 112“) und über Männer, die als Pendler die Woche über auswärts arbeiten und ein Familienleben nur am Wochenende haben („Hauptsache Arbeit“). Mit Jean Bouè haben wir ein Interview über seine Arbeits- und Denkweise geführt.
Natürlich werden im Fernsehen auch soziale Themen dokumentarisch abgehandelt, sind aber weitgehend in die formatierten Sendungen entführt, dort sorgsam abgepackt, durchkommentiert und handzahm aufbereitet worden. In den weniger streng regulierten Formaten wie „Menschen hautnah“ oder „Lebenslinien“ finden solche Themen noch eine einigermaßen auskömmliche dokumentarische Heimat , sind aber sehr aufs Persönliche konzentriert.
Noch dramatischer sieht es mit Wirtschaftsthemen aus. Sie fallen als Stoff weitgehend aus. Kaum eine Kamera gelangt noch unkontrolliert in die Sphären von Industrie und Finanzen. Die großen Unternehmen haben alle gelernt, wie man die Kontrolle über die Bilder bekommt und nicht wieder hergibt. Filme wie etwa „Der Banker – Master of Universe“ von Marc Bauder. Sind sehr selten – wurden allerdings auch vom Fernsehen rauf und runter gespielt, ähnlich wie die Filme von Klaus Stern
Es fällt entsprechend auf, dass ein großer Dokumentarfilm noch fehlt, der sich mit dem Aufkommen der Rechten befasst, dem Zerbröseln der demokratischen Selbstverständlichkeiten, dem Zerfall der Öffentlichkeit und der Medienkrise. Und der die Bilder dafür findet. Thomas Heise wäre ein Autor, der dies wahrscheinlich könnte. Seine Tiefenbohrungen mit den Filmen „Stau – jetzt geht’s los“ (1992), „Neustadt“ (2000) und „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ (2007) haben gezeigt, wie gesellschaftliche Bruchlinien, in diesem Fall im deutschen Osten, sichtbar gemacht werden können. Danach gefragt, hat Heise jüngst in einem Interview geantwortet: „Man kann nicht über Pegida einen Film machen, das ist absurd. Wenn ich etwas machen würde über Pegida, müsste ich mich fragen, was ist die Wirklichkeit in diesem Land. Und dann versuchen, das anhand von Personen zu erzählen. Ich habe bei Stau gesagt, man kann nicht über Nazis einen Film machen, dabei kommt Propaganda heraus. Das Ziel eines Films ist es, Erfahrung zu machen. Diese Erfahrung kann ich an andere vermitteln. Erfahrung kann ich aber nur machen, wenn ich offen bin. Man muss begreifen, dass man genauso sein könnte wie sie. Mit Abgrenzung lässt sich nichts beginnen.“
Genau dafür aber, Erfahrungen zu machen, braucht es Zeit, braucht es Geld – und das, so Heise, bekomme er nicht mehr finanziert. Für offene Projekte, deren Ausgang offen ist, ist kein Geld da. Thomas Heise hat in den letzten Jahren Filme über eher exotische Themen gedreht, die kaum den Dunstkreis von Filmfestivals verlassen haben.
Müssen sich Dokumentarfilme verändern?
Was tun? Die Appelle an die Fernsehsender, dem Genre doch wieder die nötige Aufmerksamkeit zu widmen, werden auf absehbare Zeit ungehört verhallen. Für die Finanzierung von Dokumentarfilmen hat sich inzwischen über Crowdfunding eine neue Möglichkeit ergeben. Einige der großen Bewegungsfilme wie „Power of Change – Die Energierebellion“ von Carl E. Fechner sind mit Geldern von Interessengruppen, NGO’s oder Privatpersonen erfolgreich finanziert worden. Das funktioniert aber nur bei Themen, die sich an soziale Bewegungen anschließen. Crowdfunding ist als Finanzierungsform nicht verallgemeinerbar – und entbindet vor allem das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht von seinem Auftrag. Auch neue Distributionswege, in denen der Dokumentarfilm an ein Publikum kommen kann, sind derzeit nicht in relevantem Umfang erkennbar. Kino, DVD und Fernsehen bleiben die dominierenden Verteilmedien.
Zugleich gerät auch das Genre selbst in die rasanten Veränderungen in der Medienwelt und verändert sich mit ihnen. Die Realität, die gestalterisch zu erfassen die Aufgabe des Dokumentarfilms ist, wird durch neue mediale Praktiken – ja was eigentlich? Ergänzt? Unterlaufen? Behindert? Erweitert?
Wir alle haben heute mit unseren Smartphones eine Videokamera in der Tasche. Die Freundin des im Juli 2016 in Minnesota von einem Polizisten erschossenen Schwarzen Philando Castile, dreht das Sterben des Manns im Auto, und zwar offensichtlich nicht gedankenlos oder sensationsgeil. Sondern weil die Bilder ihr als Beweis dienen, als Gegenbilder, gegen die Macht über die Bilder, über die normalerweise der Gegner, der Staat verfügt. Wir haben auch die Bilder des ARD-Reporter Richard Gutjahr vom Anschlag in Nizza gesehen, vom in die Menge rasenden LKW. Wir kennen die Handybilder vom Putsch in der Türkei und wir kennen die Szene, in der der Münchner Attentäter auf Passanten schießt.
Kurz: Die Brisanz des dokumentarischen Bildes hat sich verändert. Wir gewöhnen uns ans Dabeisein. Echtzeit ist eine mediale Super-Kategorie geworden. Was sollen wir da mit Bildern, die von weit her auf unsere Bildschirme geraten? Jedenfalls setzt die Aktualität den Dokumentarfilm gehörig unter Druck. Sie zwingt ihn in eine widersprüchliche Situation. Einerseits von der Oberfläche weg in die Tiefe, in die Hintergründe, in die Geschichte. Die Oberfläche ist von den Fernsehbildern besetzt. Andererseits können Dokumentaristen sich der Aktualität nicht verschließen. So haben etwa für den Film „Schattenwelt“ über den BND die Autoren immer wieder aktuellen politischen Entwicklungen folgend, nachdrehen müssen.
Insgesamt liegt auf den Medien ein enormer Bilderwartungsdruck, der aus dem Journalismus und der Aktualität kommt. Viele kritisierten zum Beispiel die öffentlich-rechtlichen Sender für ihre Berichterstattung in der Türkei aus der Perspektive. Sie hätten möglichst sofort, noch in der Nacht, alles Vorgefallene sehen und auch noch eingeordnet bekommen wollen. Wir gewöhnen uns allmählich an eine Welt, in der das Firmenmotto aus Dave Eggers Roman „Der Circle“ nichts Unwirkliches mehr hat: „Alles, was geschieht, soll gezeigt werden“. Überall Kameras, klein wie Insekten, unbemerkt, alles kontrollierend.
Vielleicht also doch die „konvervative“ Sicht? Schnelligkeit und Omnipräsenz sind also wahrscheinlich nicht das, worin Dokumentarfilme mithalten können. Schon eher liegt ihre Aufgabe in der Kontrolle und medialen Reflexion. Sie können Erinnerung wachhalten. Sie können uns lehren, Bilder zu lesen und flüchtige Nachrichtenbilder auf ihren wirklichen Gehalt hin zu prüfen. Sie können helfen, sich zu wehren gegen die routinierten Bilder, mit denen wir unsere Gegenwart abgefertigt bekommen.
Die Tatsache, dass heute jedermann mit dem Smartphone über ein audiovisuelles Gerät verfügt, mit dem er selbst drehen, schneiden, vertonen und auch noch verteilen kann, hat auch noch andere Folgen. Sie erweitert noch einmal die Möglichkeiten des Genres. Schon nach der Jahrtausendewende gab es unter dem Stichwort Camcorder-Revolution Versuche, kleine bewegliche Videokameras unter Betroffene zu verteilen. So konnten medial vernachlässigte Gruppen, etwa ethnische Minderheiten, Betroffene in sozialen Konflikten die in den Medien einfach nicht vorkamen, selbst ihre Bilder einspeisen. Das geht nun mit Smartphone und Internet noch leichter.
Das Phänomen lässt sich gut illustrieren am Zugang der Dokumentaristen zum Thema der Flüchtlinge. Im deutschen Fernsehen sind gut ein Dutzend Filme ausgestrahlt worden, die die Flüchtlinge medial ähnlich wohlwollend begleitet haben wie die Menschen die Ankommenden seinerzeit am Münchner Hauptbahnhof. Fast alle diese Filme sind konzipiert, entwickelt und gedreht worden noch ehe das Kanzlerinnenwort „Wir schaffen das“ in der Welt war. Dokumentaristen sind eben fähig sind, gesellschaftspolitische Entwicklungen zu antizipieren.
Zugleich muss man den Filmen fast so etwas wie die durchschlagende Wirkungslosigkeit von Klassikern bescheinigen. Sie sind in ihrer vorsichtigen Haltung von der Realität überholt worden. Und die Dokumentarfilme mit den eindrucksvollsten Bildern stammen aus den Smartphones von Flüchtlingen selbst, die damit entweder ihre Flucht oder aber auch ihre Lage in Deutschland selbst dokumentiert haben.
Auch hier bahnt sich also ein Umbruch an. Die kleine Redaktion der WDR-Sendung „Hier und heute“ geht davon aus, dass die Zukunft des Dokumentarfilms ganz den authentischen Bildern gehört, die die Menschen von sich selbst anfertigen. Motto: „Jeder kann Dokumentarist werden“. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Film „Wir über uns“, der in Nordrhein-Westfalen zum 70. Jahrestag der Existenz des Bindestrich-Landes ausgestrahlt wurde.
Dokumentarfilm ist eine Frage der Haltung
Wie es also wird es weitergehen mit dem Genre des Dokumentarfilms? Wird er unter die Räder der Aktualität geraten oder vermögen die Autoren sie zu nutzen.? Werden die Grenzen zwischen Autoren und Akteuren immer weiter verschwimmen? Werden die Geschichten noch stärker zwischen Finden und Erfinden pendeln. Oder werden sich Filmemacher sich zurückziehen ins Unverbindliche?
All das lässt sich nicht prognostizieren. Was aber in allen Veränderungen hoffentlich unverändert bleiben wird, das sind die Potentiale des Genres und seine Wahrnehmung. In welcher Form auch immer – Dokumentarfilme widersetzen sich dem geläufigen Rezeptionsverhalten. Im Fernsehen ist fast alles auf Zerstreuung hin orientiert. Als neuester Schrei gilt, sich nebenbei auch noch auf Tablets oder Smartphones, dem so genannten Second Screen, austoben zu können. Nichts als Ablenkung. Dagegen verlangen gute Dokumentarfilme Konzentration: auf eine Sache, auf eine Person, auf die Bildsprache. Auf das Grauschattierte statt auf das Grellbunte, auf Vorder- und Hintergrund, auf Geschichte und Vorgeschichte. Auf den Kern und nicht auf das Geschwätz drumherum.
In diesem Sinne ist es auch weiterhin notwendig, Propaganda für das Genre Dokumentarfilm zu machen, mit welchen Mitteln auch immer. In den Worten der WDR-Redakteurin Sabine Rollberg: „In Dokumentarfilmen geht es um Haltung und um Wahrhaftigkeit. Und beides braucht unsere Gesellschaft wie die Luft zum Atmen. Eine Gesellschaft, die sich rasant verändert und die von Bildern aus dem Netz überflutet wird, braucht Menschen, die Bilder sammeln und einordnen und aus der Unübersichtlichkeit der Welt einen Weg weisen. Sie wollen nicht belehren, sondern zeigen, sie treten nicht als Vor-, sondern als Querdenker auf, die uns Impulse, Denkanstöße und Orientierungshilfe geben. Sie holen den Zuschauer nicht ab, sie bringen ihn wohin, nämlich in neue Welten und Erfahrungsbereiche, sie öffnen Horizonte.“
Der Dokumentarist Andres Veiel führt auch politische und gesellschaftliche Gründe ins Feld: „Das Genre wird in der Zukunft für ein demokratisches Gemeinwesen notwendiger denn je sein – als kulturelles Gedächtnis, als Instrumentarium, eine komplexen Wirklichkeit neu und in einem anderen Kontext zu betrachten, als Rastplatz der Reflexion – und damit als Sauerstoff einer Gesellschaft, die sich angesichts eines Terrors der informativen Verfügbarkeit immer mehr das Innehalten, die Reflexion, die Selbstvergewisserung leisten MUSS.“
Man kann es auch so einfach und poetisch ausdrücken wie der chilenische Filmemacher Patrizio Gutman. Ein Land ohne Dokumentarfilme, hat er einmal geschrieben, sei wie eine Familie ohne Fotoalbum.