„14 Tagebücher des Ersten Weltkriegs“. Von Jan Peter und Juri Winterberg (Phoenix, Freitag, 01.07.2016, 2 Folgen ab 20.15)

Von Fritz Wolf

Im großen medialen Erinnerungsrummel 2014 um den Beginn des Ersten Weltkriegs (und was die Erinnerung daran zu bedeuten hat) waren die „14 Tagebücher des Ersten Weltkriegs“ gewiss das ambitionierteste Projekt – ein Hybrid aus Fernsehspiel und Dokumentation (Phoenix, Freitag, 01.07.2016, 2 Folgen  ab 20.15) . 

Der Protagonist der neueren TV-Erinnerungskultur ist das Tagebuch. Hundert Jahre nach dem Beginn des Weltkriegs stehen keine Zeitzeugen mehr zur Verfügung. Auch ist der Zeitraum, den die Theoretiker der Erinnerungskultur der kollektiven Erinnerung zugestehen, verstrichen. Nach etwa 80 Jahren bricht das Weitererzählen innerhalb der Generationen ab. Es ist also kein Zufall, dass 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs das Tagebuch als fixiertes Zeugnis die zentrale Rolle spielt. Das Tagebuch als Zeitzeuge der Zeitzeugen. An der Grundhaltung der TV-Geschichtsschreibung hat sich damit aber nichts geändert. Über dem Titel des ARTE/ARD-Medienevents „14 – Tagebücher des ersten Weltkriegs“ steht das bekannte Versprechen: „Dies sind wahre Geschichten.“

Dieser Hinweis für die Zuschauer muss vielleicht auch sein, denn „14“ ist ein Doku-Drama, der Anteil der inszenierten Passagen ist hoch. Die Zahl 14 spielt mit der Jahreszahl des Kriegsbeginns und mit der Zahl der für die Erzählung verwendeten Tagebücher: eben 14. ARTE hat das Doku-Drama in acht Folgen zu je fast einer Stunde ausgestrahlt, die ARD begnügte sich mit einer wesentlich kürzeren Version. Der ARD-Hörfunk hat aus dem Tagebuchmaterial eine sechsteilige Reihe von Features (oder sind es Hörspiele?), gemacht, die im März gesendet wurden. Mit den gleichen Protagonisten, aber medial anders aufbereitet.

Das Doku-Drama von Jan Peter und Yury Winterberg ist das Ergebnis einer großen und internationalen Anstrengung. An der Koproduktion waren mehrere ARDSender beteiligt, ARTE, der ORF. Sechs Millionen hat das Projekt gekostet. Auch erzählerisch sind die Filme international, sie erzählen den Krieg multiperspektivisch und nicht nur aus europäischer Sicht. Die Produktion wurde in sieben Sprachen gedreht, die Szenen in den verschiedenen Ländern wurden von Schauspielern in ihrer Muttersprache gedreht – und für die Ausstrahlung untertitelt. Dokumentarmaterial aus vielen Archiven in der Welt wurde recherchiert und aufwendig digitalisiert.

Im Zentrum aber steht das szenische Material, das die Autoren aus den Tagebüchern extrahieren. Geschichten von 14 Menschen, die ihre Erlebnisse aufgeschrieben haben. Prominente sind darunter wie die die Bildende Künstlerin Käthe Kollwitz oder der Schriftsteller Ernst Jünger. Aber vor allem Unbekannte. Das 12-jährige Mädchen Elfriede Kuhr, die in der Provinz Posen lebt und von Anfang an ein Kriegstagebuch führt. Der 10-jährige Yves Congar, der in Sedan lebt und die Erfahrung der deutschen Besatzung aufschreibt. Der junge Bauer Paul Pireaud und seine Frau Marie, die all die Kriegsjahre getrennt voneinander leben und sich viele Briefe schreiben. Marina Yurlova, die als Kindersoldatin mit einer Einheit berittener Kosaken in den Krieg zieht. Der österreichische Bauer Karl Krasser, dem gar nicht nach Krieg zumute ist. Aber er muss trotz Handverletzung in einer polnischen Einheit dienen. Seine Vereidigung wird in sieben Sprachen abgehalten und dauert fast den ganzen Tag.

Die Geschichten all dieser Menschen werden über die Kriegsjahre hinweg erzählt, von anfänglicher Hochstimmung bis zu tiefer Depression, von den Erfahrungen im Lazarett und im Schützengraben, vom Luftkrieg zum Gaskrieg und retour. Ein vielstimmiges, vielschichtiges und multinationales Bild, in dem die Erinnerungen und Erfahrungen für sich sprechen sollen. Historiker werden nicht befragt. Ein Erzähler (Udo Samel) verbindet die vielen Schauplätze und Personen und liefert knapp die Fakten.

Der zentrale auffällige Punkt am vermehrten Tagebuch- Aufkommen im Geschichtsfernsehen ist, dass es damit möglich wird, einfache Narrative zu wählen. Dieses Erinnern an den Ersten Weltkrieg stützt sich ganz auf das subjektive Kriegserlebnis und auf seine emotionale Dimension, auf die Erfahrung von Leben, Leiden, Tod. „14 – Tagebücher“ parallelisiert die Kriegserlebnisse in verschiedenen Ländern und setzt das visuell um in einer schnellen Montage von Bildern: die Internationale des Abschieds, des schlechten Essens an der Front, der Todesnachrichten. Das trifft ganz sicherlich eine Wahrheit: für jene, die den Krieg im Alltag erleben und erleiden, sieht das Schicksal in allen Ländern gleich aus.

Andererseits ist das eine Binsenweisheit, gegen die niemand etwas einzuwenden haben wird. Dagegen fallen aber Einsichten in politische und gesellschaftliche Umstände eher sparsam aus. Etwa zur Frage der Kriegsschuld, die ja bei Historikern ziemlich umstritten ist. Der ARD-Film etwa wählt das Narrativ, seit der Jahrhundertwende hätten sich die europäischen Gesellschaften technisch, kulturell und wirtschaftlich in enormem Tempo entwickelt, die Zukunft muss sehr vielversprechend ausgesehen haben – „bis zu diesem Sommer 1914“. Der Krieg scheint irgendwie von oben zu kommen und alle sind jubelnd in die Hölle gezogen. Das Diktum von Wilhelm Zwo, er kenne nur noch Deutsche, wird gern zitiert. Dass es, nur als ein Beispiel, noch im Juli 1914 große Demonstrationen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Deutschland gab, dass Widerstand geleistet wurde gegen Flottenrüstung und Kriegskredite in Deutschland, das wird ebenso wenig erwähnt wie die verhängnisvolle Burgfriedenspolitik der SPD ab August 1914.
Die Tagebücher geben solche größeren politischen Zusammenhänge offenbar nicht her. Nicht einmal die enorm widersprüchliche Ausgangslage wird deutlich: dass die einen in den Krieg zogen, um alles Alte zu behalten, die anderen dagegen mit dem Krieg alles Alte wegfegen wollten. Vielleicht verdankt sich diese heutige Interpretation des Ersten Weltkriegs als zugleich zufälliger wie zwangsläufiger Prozess auch einem Zeitgeist, in dem vieles unaufhaltsam abzulaufen scheint. So scheint im Zeitalter alternativloser Politik rückblickend auch die Historie als alternativlos.

Die filmische Form fügt sich diesem Muster. Autor Jan Peters nennt seine Arbeit eine dokumentarische Spielfilmserie – alles vertreten: Dokument, Fiktion, Serie. In welcher Verbindung stehen sie zueinander? Es ist generell ein Kennzeichen des Fernseh-Historismus, dass er Vergangenes scheinbar so nahe wie möglich an die Gegenwart heranholt, um es dann in Fraglosigkeit erstarren zu lassen. So werden die Tagebücher plan in Filmszenen umgesetzt. Es wird vorgesprochen und nachillustriert. Rezeptfernsehen. Wenn in einem Tagebuch die grausige Erinnerung steht, im Schlamm des Schützengrabens seien Hände aus dem Boden geragt, dann ragen im Bild Hände aus dem Boden. Wenn im Tagebuch von Käthe Kollwitz steht, dass sie als Sozialdemokraten die Kaiserfahne aus dem Fenster hängen, dann hängen sie selbstverständlich eine Kaiserfahne aus dem Fenster.

Dazu amalgamieren die Autoren die szenischen und die dokumentarischen Bilder. Wenn eine Figur aus dem Fenster schaut, kann es sein, dass wir, ihrem Blick folgend, plötzlich auf dokumentarische Bilder schauen. Das wiederum funktioniert nur, wenn die dokumentarischen Bilder in ihrer Qualität heutigen Bildansprüchen genügen. Deshalb wurde das Archivmaterial mit sehr großem Aufwand digitalisiert. Es sollte so aussehen wie heutige Bilder – nur das Schwarz-Weiß hält sie etwas auf historische Distanz.

www.wolfsiehtfern.de

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