Schluss mit den Sonderwelten für Menschen mit Behinderung. So hat „Leidmedien.de“ einen umfänglichen Debattenbeitrag in Causa, dem Debattenmagazin des Tagesspiegels, überschrieben und auf diese Publikation aufmerksam gemacht.
„Leidmedien.de“ ist eine Internetseite für Journalistinnen und Journalisten, die über Menschen mit Behinderungen berichten wollen. Aus der Sicht von behinderten und nicht behinderten Medienschaffenden werden Hinweise für eine Berichterstattung aus einer anderen Perspektive und ohne Klischees zusammengestellt. „Leidmedien.de“ ist ein Projekt der SOZIALHELDEN in Kooperation mit der Aktion Mensch, anfänglich gefördert durch die Robert Bosch Stiftung.
Wir dokumentieren den Beitrag von Sven Drebes: Behinderte wollen (und sollen) nicht länger in Sonderumwelten leben, um der hiesigen Debatte um Inklusion einen weiteren gedanklichen Anstoß zu geben. Zugleich weisen wir auf die Beiträge “Inklusion ist ein Recht, keine Gnade” von Kirsten Ehrhardt und “Das Menschenrecht auf inklusive Bildung wird in Deutschland bisher nur unzureichend umgesetzt” von Dr. Marcus Funke und Dr. Stefanie Malta hin, die ebenfalls in dem Debattenmagazin des Tagesspiegel zu finden sind.
Behinderte wollen (und sollen) nicht länger in Sonderwelten leben
Die milliardenteure Betreuung und Versorgung von Behinderten geht an deren grundsätzlicher Forderung nach Selbstbestimmung vorbei. Wer als Behinderter ein Leben führen will, dass dem nichtbehinderter Menschen nahe kommt – in einer eigenen Wohnung leben, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten, gar eine Partnerschaft eingehen – muss meist kämpfen. Das ist ungerecht und überflüssig und widerspricht allem, was die Bundesregierung versprochen hat.
Am 21. April 2016 um fünf vor zwölf trafen sich rund 200 behinderte und nicht behinderte Menschen an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz und machten mit Weckern, Hupen und anderen Dingen Lärm. Unter dem Motto „Teilhabe jetzt!“ versprachen sie und rund 300 weitere Demonstrant*innen in sieben anderen Städten, der Bundesregierung so lange „auf den Wecker zu gehen“, bis behinderte Menschen gleichberechtigt leben können. Warum das Ganze, wo doch die UN-Behindertenrechtskonvention seit sieben Jahren auch in Deutschland gilt und beschreibt, wie die allgemein gültigen Menschenrechte auch für behinderte Menschen zu verwirklichen sind?
Es gibt viele Angebote, die kosten Milliarden Euro – bringen aber nicht das, was Behinderte wollen.
Deutschland hat für jede Station im Leben behinderter Menschen ein Angebot, von der heilpädagogischen Kita über Förderschulen und Werkstätten für behinderte Menschen bis zu Wohn- und Pflegeheimen bzw. Wohngruppen. Das Problem daran ist, dass all diese Einrichtungen Milliarden kosten, aber wenig dazu beitragen, dass behinderte Menschen ein Leben führen können, das ihren Wünschen entspricht, geschweige denn mit dem nichtbehinderter Menschen vergleichbar ist. Vielmehr leben sie in Sonderwelten, im besten Fall von engagierten Menschen gefördert, zu oft aber einfach nur verwahrt.
Das Leben in Einrichtungen richtet sich nach den Plänen der Anderen, es hat nichts selbstbestimmtes.
Das Leben in derartigen Einrichtungen folgt einem vorgegebenen oft strikten Tagesablauf. Aufstehen um sieben, auch wenn man um sechs aufstehen müsste oder bis neun schlafen könnte. Gleiches gilt für Mahlzeiten oder das Zubettgehen. Toilettengänge sind nur in Abstimmung mit anderen Heimbewohner*innen möglich. Eine individuelle Freizeitgestaltung außerhalb der Einrichtung ist fast unmöglich – erst recht abends oder am Wochenende. Das ist eine unzumutbare Einschränkung der Freiheit, und diese Bedingungen können oftmals auch lebensbedrohlich sein.
Wer diese ausgefahrenen Pfade verlassen und ein Leben führen will, dass dem nichtbehinderter Menschen nahe kommt – in einer eigenen Wohnung leben, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten, gar eine Partnerschaft eingehen – muss meist kämpfen. Wer Persönliche Assistenz zum Leben braucht, muss sein komplettes Leben rechtfertigen, zum Teil sogar erklären, warum er wie oft zur Toilette muss. Dabei geht es mitnichten darum, sich aus Bequemlichkeit bedienen zu lassen. Assistenz ermöglicht behinderten Menschen nur das zu tun, was für Menschen ohne Behinderung selbstverständlich ist.
Ob es einen Assistenten gibt oder nicht, entscheiden Ämter, die aber Interesse an billigeren Lösungen haben.
Das entsprechende Gesetz sieht zwar ein Wahlrecht vor, das jedoch dann ausgehebelt werden kann, wenn die Ämter billigere Alternativen sehen. In der Regel handelt es sich dabei aber um nicht zumutbare Scheinlösungen. Einige behinderte Menschen machen die Erfahrung, dass die zuständigen Ämter alles tun, um nicht zahlen zu müssen, in einigen Fällen wurden selbst Gerichtsurteile ignoriert oder bewilligte Leistungen ohne Ankündigung oder Begründung gekürzt oder eingestellt.
Ab 1300 Euro netto muss man von seinem Gehalt ans Amt abgeben.
Doch selbst wenn die benötigten Leistungen bewilligt werden, kann von einem gleichberechtigten Leben nicht die Rede sein. Der behinderte Mensch selbst und, wenn eine Partnerschaft besteht, auch die Partnerin oder der Partner, müssen mit großen Teilen des Einkommens und fast den kompletten Ersparnissen seine Unterstützungsleistungen mitfinanzieren. Ein Paar darf, einschließlich Girokonto und Bargeld, 3240 Euro besitzen, eine allein lebende Person 2600 Euro – Summen, die man nicht ernsthaft als Vermögen bezeichnen kann. Die Freibeträge für das Einkommen sind so niedrig, dass schon ein Nettoeinkommen von 1300 Euro dazu führen kann, dass man einen Teil seines Einkommens an das zuständige Amt zahlen muss. Eine repräsentative Umfrage von Infratest dimap im Auftrag von Abgeordnetenwatch.de hat kürzlich ergeben, dass 65 % der Deutschen es ablehnen, dass behinderte Menschen die Unterstützungsleistungen, die sie zum Leben benötigen, mitfinanzieren müssen. Ein Verzicht auf die Anrechnung von Einkommen und Vermögen würde die Ausgaben des Staates übrigens um nur ein Prozent steigern.
Die Regierung liefert nicht! Gut ein Jahr ist der Gesetzentwurf überfällig.
Die Große Koalition schien diese menschenrechtswidrigen Zustände beseitigen zu wollen. Der Koalitionsvertrag kündigt ein Bundesteilhabegesetz an, das die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen sollte. Nachdem behinderte Menschen und andere Akteur*innen fast ein Jahr lang in einer Arbeitsgruppe beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales über das Gesetz diskutierten, wartet man seit etwa einem Jahr auf einen offiziellen Entwurf. Das, was bisher bekannt wurde, lässt aber nichts Gutes für den Fortschritt der Inklusion in Deutschland erwarten. So könnte zwar die Vermögensgrenze deutlich angehoben werden, das Wahlrecht behinderter Menschen würde aber deutlich eingeschränkt und Einkommen oberhalb einer minimal angehobenen Schwelle eher mehr als weniger herangezogen.
Inklusion muss unabhängig von Einkommen behinderter Menschen betrachtet werden.
Damit Inklusion in Deutschland wirklich Fortschritte macht, muss das Teilhabegesetz u.a. Unterstützungsleistungen bei Teilhabe, Assistenz und Pflege unabhängig von Einkommen und Vermögen des behinderten Menschen und deren Partner*innen und individuell nach den Wünschen der Betroffenen statt in aussondernden Einrichtungen garantieren!
– Lesen Sie hier, was die Mutter eines behinderten Sohns sich für sein und ihr Leben wünscht.
Foto: Alice Sheppard and Laurel Lawson perform “Excerpt from Snapshot (Minsky’s Burlesque, New Jersey, ca. 1954)” von Kevin Irvine Chi