Das zeitlose Flackern der menschlichen Seele

Prof. Dr. Matei Chihaia zum 100.Todestag des französischen Schriftstellers Marcel Proust

VON UWE BLASS

Der siebenbändige Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gilt als sein Hauptwerk. Am 18. November 1922 starb der französische Schriftsteller Marcel Proust in Paris. Wer war dieser Mann?

Chihaia: Marcel Proust widmete einen großen Teil seines Lebens dem Schreiben. Er verfasste diesen Roman, der nicht in einem Schwung entstand, sondern immer wieder überarbeitet wurde. Er verschickte unzählige Briefe und Botschaften, überlegte sich elegante Widmungen und witzige Komplimente. Wir haben den Eindruck, viel zu wissen über die Art und Weise wie er dachte, wie er wohl die Welt gesehen haben muss, weil er alles das artikuliert hat. Leider hat er auch deutlich gemacht, dass das Innere eines Menschen, der tiefe Grund seiner Seele, unzugänglich ist: also bleibt er letzten Endes auch selbst ein Geheimnis. 

Da ist einerseits die Oberfläche dieses unglaublich charmanten Wesens, das sich in Texte ergießt, eine schier unerschöpfliche Oberfläche, wie ein Meer, dass sich vor uns erstreckt. Und andererseits wissen wir doch eigentlich nichts über die Person Marcel Proust. Das Schreiben war natürlich nicht sein ganzes Leben. Er liebte Milchkaffee und Bier, er ging gerne in die Oper, er kam aus einer Ärztefamilie, er schlug sich in einem Duell für seine Ehre und hielt wenigstens einmal einen Tennisschläger in der Hand – obwohl es auf dem entsprechenden Foto so aussieht als würde er ihn mit einer Gitarre verwechseln.

Nach dem Tod seiner Mutter 1905 stürzte Proust in eine tiefe Krise. Danach widmete er sich ausschließlich seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und sah darin gar den Inhalt seiner Existenz. Worum handelt der Roman?

Chihaia: Das ist das eigentlich Aufregende an seinem Leben, dass er ab einem bestimmten Punkt „aussteigt“, wie man heute sagen würde. Aber er geht nicht in die Toskana oder etwa nach Goa, sondern zieht sich in eine Pariser Wohnung zurück, um zu schreiben. Mitten in der Großstadt, nur wenige Straßen von den Stadtpalästen entfernt, in denen er zuvor ein gerne gesehener Gast war, arbeitet er an einem ganz außergewöhnlichen Roman. Das Thema des Romans ist das Leben eines Menschen, von diesem selbst erzählt. Aber es geht Proust nicht um die Ereignisse dieses Lebens. Genau genommen, passiert nicht besonders viel: in den ersten hundert Seiten muss der kindliche Held ohne Gutenachtkuss zu Bett gehen – viel mehr Drama gibt es nicht in seinem Leben.

Irgendwann wird er sich in eine Frau verlieben, an Eifersucht leiden, sie verlieren, um sie trauern. Alle diese Ereignisse, und auch diejenigen, die seinen Bekannten zustoßen – wie die seltsame Liebesgeschichte von Charles Swann –, sind nur Anlässe für endlos feine Beobachtungen und Beschreibungen. Das wirkliche Thema des Romans ist nämlich die Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, was ein Wort oder ein bestimmter Klang in uns auslösen kann. Der Erzähler – und hier könnte man ruhig sagen „Proust“ – möchte wissen, wie viel aus diesem vergänglichen Erleben des Menschen sich in Literatur verwandeln und so vor dem Tod retten lässt. Das ist das Ziel der „Suche“.

Dieser Roman hat die Literatur des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt. Wodurch?

Chihaia: Wie Ulysses von James Joyce hat er sich von der Tradition realistischen Erzählens abgewandt, bei der die erzählte Geschichte im Vordergrund steht. Der Roman ist für Proust eine Gelegenheit, das menschliche Denken, die menschliche Seele zu erkunden – indem er Bild an Bild, Vergleich an Vergleich reiht. Deswegen gibt es so viele Philosophen und Psychologen, die von der Suche nach der verlorenen Zeit fasziniert sind. Und der langjährige Vorsitzende der Marcel Proust Gesellschaft ist nicht zufällig ein Mediziner. Aber die Fülle rhetorischer Mittel sollte auch daran erinnern, dass es kein Roman mit objektivem wissenschaftlichem Anspruch ist, sondern immer auf die Impressionen eines Ich zurückverweist, und auf dessen Grenzen. Man genießt mehr, als dass man lernt. 

Hat dieser Roman die Literatur des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt? Es fällt mir schwer, dies zu behaupten. Proust hat gewiss einige Generationen geprägt, und er gehört zum Kanon dieses Jahrhunderts. Aber der Roman als Geschichten-Erzählen setzte sich am Ende doch durch, nicht nur auf dem Buchmarkt.

Im siebten Band erfährt der Held des Romans, der immer Schriftsteller werden wollte, dass die Kunst des Schreibens vornehmlich darin liegt, sich seinen Erinnerungen hinzugeben. Was ist damit gemeint?

Chihaia: Also in einer klassischen Autobiographie ist das Erinnern kein Problem. Die Autorin oder der Autor erzählt ihre oder seine Lebensgeschichte ausgehend von dem woran sie oder er sich erinnert. Die Geschichte steht im Mittelpunkt, was jemand getan oder erlebt hat. Nicht so bei Proust. Der Erzähler von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist zunächst weit davon entfernt, eine Autobiographie zu schreiben. Ein Teil des Problems ist, dass sein Leben relativ belanglos ist: da ist keine große Story. Ein anderer Teil ist das Vergessen. Wenn er sich bemüht, sich an das Vergangene zu erinnern, kommen nur unangenehme und fragmentarische Erlebnisse hoch. 

Marcel Proust

Aber schon im ersten Band deutet sich an, dass es auch anders geht. In dem sprichwörtlich gewordenen Madeleine-Erlebnis werden ein Stückchen Kuchen und ein Schluck Lindenblütentee zum Auslöser eines unwillkürlichen, aber vollständigen Erinnerungserlebnisses: eine vergangene Situation, in der er eine ähnliche Gaumenfreude genießen konnte, entfaltet sich vor seiner inneren Wahrnehmung. Am Anfang weiß er noch nicht, was er mit diesem Erlebnis anfangen soll. Erst allmählich versteht er, dass er es aufschreiben soll, dass diese Erlebnisse den Kern eines künftigen Romans bilden. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist ein Buch über ein erst allmählich gelingendes Erinnern.

Der Erzähler wird an einer Stelle auch Marcel genannt und erinnert oft an Proust selber. Ist der Roman autobiographisch?

Chihaia: Schöne, schwierige Frage. Darüber hat meine Vorgängerin, Ursula Link-Heer, ein ganzes Buch geschrieben. Einiges erinnert an die Autobiographie, zum Beispiel der Anfang mit der Kindheit und die chronologische Abfolge der Kapitel. Aber es handelt sich um eine Fiktion, und für eine Autobiographie steht der Ich-Erzähler einfach zu wenig im Mittelpunkt. Er beobachtet das, was andere tun, und analysiert das, was er wahrnimmt. Er betrachtet sich auch selbst, aber nicht mit dem Ziel, die Geschichte seines Lebens aufzuzeichnen, sondern das Denken, die Empfindungen, und alles das, was in einem so vorgeht, darzustellen.

In einer Szene, spricht der schwule Baron de Charlus mit dem Sorbonne-Professor Brichot sehr detailreich über seine Neigung, so dass dieser bemerkt: „Wenn jemals ein Lehrstuhl für Homosexualität eingerichtet werden sollte, dann würde ich Sie an allererster Stelle vorschlagen.“ Proust, der selber homosexuell war, sich aber nie outete, schrieb sehr offen darüber und nimmt dem Thema bereits vor über 100 Jahren damit die Heimlichkeit. Wie wurde sein Werk bei Erscheinen besprochen?

André Gide

Chihaia: Im ersten Band, der 1913 erschien, wird die Homosexualität noch relativ diskret verhandelt, erst Sodome et Gomorrhe macht sie zum zentralen Thema. Aber wie der Titel schon andeutet, rankt er Mythen und Mysterien um die gleichgeschlechtliche Liebe. Sie wirkt im Roman entweder tragisch oder grotesk, und immer wieder ist die Rede von “Verkehrung”, von Widernatürlichkeit. Obwohl fast alle Figuren des Romans der Homosexualität verdächtigt werden, stellt sich der Erzähler auf einen ganz heterosexuellen Standpunkt. 

Zeitgenossen wie André Gide waren von dieser Darstellung enttäuscht, die Vorurteile fördern kann. Andere waren im Gegenteil skandalisiert über die Offenheit und Details, mit der zum Beispiel ein Männerbordell dargestellt wird. Wenn Sie mich fragen: Es ist sicher nicht das Buch, das ich jemandem empfehlen würde, der mehr über Homosexualität – die eigene oder die der anderen – lernen möchte. Was man hingegen aus der Lektüre von Proust mitnehmen kann, ist der Rausch der richtigen Worte: Dieser Roman ist ein viele tausend Seiten langer verbaler Flirt mit dem Leser – oder der Leserin.

„Bei Proust lebt jeder Gedanke im literarischen Gewand einer sinnlichen Empfindung“, sagt der Autor Tilmann Spengler. Was heißt das?

Chihaia: Wenn man Proust liest, dann fühlt man mit vollen Sinnen das Geschilderte. Es gibt einige Seiten, die er als junger Mann geschrieben hat, noch lange bevor er zum Autor von Die Suche nach der verlorenen Zeit wurde, und die verschiedene Spaziergänge schildern: durch die Tuilerien, Versailles, einen Bauernhof, wo er Eier aus dem Hühnerstall holen soll und auf einmal einem Pfauen begegnet… Ich denke jedes Mal an diese Stelle, wenn ich spazieren gehe, so als wäre es eine Situation, die ich erlebt hätte. 

Das Foto des toten Dichters, dass man auch als Postkarte kaufen konnte, schoss der berühmte Fotograf Man Ray und läutete damit seine Unsterblichkeit ein. Wie aktuell ist Proust heute?

Chihaia: Auf diesem Foto ist er unrasiert, seine geschlossenen Augenlider wirken dunkel… ich sehe es vor mir, wenn wir darüber sprechen. Es erinnert mich immer an die Totenmaske von Blaise Pascal, der ja nicht vor einem, sondern vor fast vier Jahrhunderten starb. Zwei verstorbene Autoren, deren Bildnisse fortleben. Weshalb? Beide scheinen unvermindert aktuell, weil sie nicht mit ihrer Zeit gingen. Auch Pascal zog sich ja zurück in ein klösterliches Leben, so wie Proust in sein korkgetäfeltes Zimmer. 

Unser Autor ist ein Zeitgenosse aller Avantgarde-Bewegungen, und er war befreundet mit so einer modernen Figur wie Jean Cocteau, er kannte den Surrealisten Man Ray, begegnete Pablo Picasso… 

Trotzdem gehört er in keine Strömung. Und der Erste Weltkrieg, das große Ereignis seiner Zeit, erscheint zwar in seinem Roman, aber ohne den historischen Akzent, den man erwarten könnte. In seinem Buch ist das 17. Jahrhundert, die Zeit Madame de Sévignés und Jean Racines, genau so gegenwärtig wie das 20. Jahrhundert – nicht nur, weil er wie eine schnurrbärtige Motte um die Seidenroben adliger Damen flatterte, sondern auch, weil er sich für das zeitlose Flackern der menschlichen Seele interessierte. Und das hat er ebenfalls mit Pascal gemeinsam.

Prof. Dr. Matei Chihaia studierte Komparatistik, Romanistik und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der University of Oxford. Seit 2010 lehrt er Französische und Spanische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität.

Beitragsfoto: 100.Todestag des französischen Schriftstellers Marcel Proust – Prof. Dr. Matei Chihaia / Romanistik © Sebastian Jarych

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