Ein Wort zum Montag, dem 14. November 2022
VON CORNELIA SENG
Der Herr ist gut gekleidet. Arm kann er nicht sein. Er stellt seinen Rollkoffer ab und sucht mühsam nach seiner Geldbörse. Ich sehe, wie er einen Geldschein in das Schälchen des alten Mannes im Rollstuhl legt. Sogar ein paar Worte wechselt er noch mit ihm. Durch das große Schaufenster beobachte ich die Szene. Nachdem ich meinen Enkel in den Kindergarten gebracht habe, trinke ich hier gerne einen Kaffee. Täglich habe ich den alten Mann mit dem Schälchen vor der Bäckerei angetroffen. Nein, Hunger habe er nicht, sagt er auf meine Nachfrage. Aber das Geld sei eben knapp. Seine Frau sei auch krank. Die teuren Medikamente, er müsse ja bei allem zuzahlen. Ich nicke und suche in meinen Münzen. Eigentlich habe ich mir abgewöhnt, einfach Geld in die Schale zu werfen, erkläre ich ihm. Meinem Empfinden nach sei das würdelos. Unter seiner Würde und unter meiner. Zu meiner Überraschung nickt er jetzt.
Am Nachmittag treffe ich auf zwei Frauen aus Rumänien. Sie teilen sich die spendierte Pizza. Eine von Ihnen spricht ganz gut deutsch. Sie schlafen im Park, erklärt sie mir. Da sei es sehr kalt. Und sie zeigt auf ihre nackten Füße. Gegenüber ist ein Geschäft. Dort kann ich für wenig Geld ein paar Wollsocken kaufen. Aber hilft ihr das wirklich?
Ob St. Martin mit mir zufrieden wäre? Er hatte damals echt geteilt, halbe-halbe. Und nicht nur ein paar Socken billig gekauft. Damit hat er ein Zeichen gesetzt. Bis heute feiern wir seine Mantelteilung. „Rote, Gelbe, Grüne, Blaue: Lieber Martin, komm und schaue”, haben wir beim Laternenfest mit dem Enkel gesungen. Im Kindergarten hat er seine erste Laterne gebastelt. Was der St. Martin wohl sieht, wenn er auf uns heute schaut?
„Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36), hat Jesus den Jüngern gesagt. Aber wie lebt man Barmherzigkeit heute? Wie ist man barmherzig gegenüber den vielen, die einen um Geld bitten in der Stadt? Ich wünschte. ich konnte wie Petrus zu dem lahmen Bettler sagen: … was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazareners, steh auf und geh umher!” (Apg 3,6). Ich würde gerne hinzufügen: „Hab Vertrauen und sei ein lebendiger Mensch!”
Wilhelm Löhe hat gesagt: „Lass die barmherzige Auffassung aller Dinge deine Lebensaufgabe sein. Er hat im 19. Jahrhundert gelebt und ein Diakonissenhaus in Neuendettelsau in Franken gegründet. Die Diakonissen sollten dem Elend der verarmten Stadtbevölkerung Abhilfe schaffen. Auch wenn ich keine Diakonisse bin: Barmherzigkeit als Lebensaufgabe – das wäre es. Doch Barmherzigkeit geht nicht ohne Gerechtigkeit. Das habe ich inzwischen verstanden.