Nicht nur in den sozialen Medien hört und liest man davon.
Ein Kommentar von Andrea Sax
Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht über die Aufrufe “Kirchensteuer abschaffen” , “austreten aus dem Verein”, “Zwangsabgabe” stolpere. Gern genommen werden auch Aussagen wie “die Kirchen stoßen sich an unseren Steuern gesund”, “die haben Geld wie Heu und bieten nix” oder “Nehmen ist denen seliger als Geben”.
Ich weiß gar nicht, wie ich mein Gefühlsleben beim Lesen derartiger Aussagen beschreiben soll. Eine emotionale Achterbahnfahrt zwischen Wut, Entsetzen, Hilflosigkeit. Wäre ich eine Comicfigur, stünden über meinem Kopf diverse Kringel, Blitze und Wolken und ich haute den Beitragserstellern während meinen Richtigstellungen mit der Bibel auf den Kopf…🤬🗯️
Ich bin aber keine Comicfigur, sondern Presbyterin. Als solche habe ich – nach vielen Jahren ehrenamtlichen Engagements – ganz gute Einblicke in die Arbeit und Finanzlage unserer Kirchengemeinde.
Was soll ich sagen? Kirche ist eine Solidargemeinschaft. Jeder, unabhängig von Geschlecht und Konfession, darf die Angebote in Anspruch nehmen. Was machen wir denn mit all dem vielen Geld?💸💸💸💸💸💸💸
Kindergärten betreiben. Das bedeutet: Gebäude bewirtschaften, Arbeitsplätze schaffen und erhalten, Betreuungsangebote zur Verfügung stellen. Ja, wir bekommen Zuschüsse. Wie andere Träger auch. Nach Abzug aller Gelder, die uns zufließen, stecken wir derzeit über €100.000,00 jährlich zusätzlich (aus den Kirchensteuereinnahmen) in die Kitas. 💸
Diakonische Angebote. Von Tagespflege über mobile Krankenpflege bis zu Wohngemeinschaften schaffen wir auch hier wieder Arbeitsplätze, stellen die Versorgung und Betreuung unserer Senioren und sonstigen Pflegebedürftigen sicher und bewirtschaften die dazugehörigen Gebäude. Ich selbst wurde schon nach einer Operation mit anschließenden Komplikationen kompetent und liebevoll von der Diakonie zu Hause versorgt.💸
Kinder- und Jugendarbeit. Allein in unserem Städtchen dürfen wir drei (in Zahlen: 3!) hauptamtliche Jugendreferent_innen “unser Eigen” nennen. In der Stadt am Markt, im Hünger und in Tente arbeiten 3 engagierte Menschen in Kooperation mit den jeweiligen CVJM für und mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Es gibt zahlreiche Gruppenangebote unterschiedlichster Art. Auch hier: wir schaffen und erhalten Arbeitsplätze, wir schaffen und erhalten Angebote und – natürlich – erhalten wir auch hier wieder die dafür notwendigen Gebäude.💸
Reicht noch nicht? Ach, ich hätte da noch Seelsorge im Krankenhaus und den Seniorenheimen im Angebot (geschultes Personal, die Schulungen zahlen wir natürlich), bei uns darf in hübsch geschmückten Kirchen geheiratet werden (und für relativ kleines Geld direkt im Anschluss in den dazugehörigen Gemeindehäusern die Party steigen), bei uns finden Sprachkurse (sofort, unbürokratisch und selbstverständlich kostenlos) für Geflüchtete statt, wir bieten für alle Altersklassen von Babykrabbelgruppe bis Seniorenkreis Treffen an (selbstverständlich kostenlos), es gibt ein umfangreiches musikalisches Angebot für Kindergartenkinder bis Senioren (ach ja, kostet übrigens nix). Und dann gibt es sogar derzeit 5 Pfarrer*innen (4 davon mit einer 75%-Stelle), die nicht nur sonntags ein Stündchen eine hübsche Rede halten, sondern vielfach deutlich über ihr Arbeitszeitkontingent hinaus Dienst tun.
Wetten, dass ich noch jede Menge vergessen habe, aufzuzählen?
Bevor ich mir gleich meine (durchaus schwere und stattliche, weil in Großdruck geschriebene) Bibel schnappe und auf Kreuzzug gehe, um sie dem Nächsten auf den Kopf zu hauen, versuche ich mich besser im “Liebe Deinen Nächsten”. 🛐Auch wenn’s beim Lesen so mancher Anti-Kirchen-Äußerungen echt schwer fällt.
Vielleicht kann ich den Ein- oder Anderen zum Umdenken bewegen. Die Austritte sind dramatisch und es ist unklar, wie lange wir welche Angebote noch aufrecht erhalten können.
Dabei ist doch die Kirchensteuer sogar abzusetzen bei der Einkommensteuererklärung 🥺
Hallo Andrea,
ganz spontan fällt mir als Angebot noch die Notfallseelsorge, Besuchsangebote und Gruppentreffen für Senioren oder Trauernde ein.
Viele Grüße! Maria
Liebe Frau Sax,
Ihre Auflistung ist absolut richtig und korrekt. Die beschriebenen Arbeiten sind immer dann erfolgreich und gut wenn sie von engagierten Mitarbeitern / -innen getan werden. Und so ist eine gute Arbeit nicht von der Kirchenzugehörigkeit abhängig. Warum sollte ein kirchlicher Kindergarten besser sein als einer in freier Trägerschaft?
Zweifel an der Kirche? Gerne nenne ich Ihnen zwei Beispiele:
Mein Onkel kam viele Jahre nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft zurück nach Wermelskirchen. Und zur damaligen Zeit war die persönliche Bekanntschaft zwischen Pastor und Gemeinde bzw. zu den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern größer als heute. Man war eben vielmehr persönlich bekannt.
Mein Onkel hatte, wahrscheinlich wegen seiner langen Gefangenschaft, das Bedürfnis, am Sonntag den Gottesdienst zu besuchen. Er erlebte durch den Pastor folgende Begrüßung: “Sie sind aber auch lange nicht mehr hier gewesen.” Glauben Sie wirklich mein Onkel hätte jemals wieder eine Kirche betreten?
Ich erlebte in meiner Realschulzeit mehrfach einen prügelnden Direktor im Schulgottesdienst. Glauben Sie der Herr Pastor wäre in seiner christlichen Nächstenliebe dem Herrn Direktor ins Wort oder gar in den Arm gefallen?
Es sind diese kleinen Erlebnisse die sich im Laufe des Lebens sammeln, die einen zu der Erkenntnis bringen Kirche und Glaube sind zwei verschiedene Dinge. Und die einen dann auch zu dem Schluss bringen aus dem “Verein” auszutreten.
Und denken wir mal ganz groß, in Jahrhunderten. Es gibt wohl kaum eine Institution die so viel Not und Elend über die Menschen gebracht hat wie die Kirchen. Dabei haben wir die aktuelle und noch lange nicht aufgearbeitete Situation des Missbrauchs noch gar nicht bedacht.
Ja, Sie haben völlig recht. Es gibt ganz viele, die auch aus christlicher Überzeugung, ganz tolle Arbeit leisten. Aber es gibt bestimmt genau so viele, die diese Arbeit auch ohne die Institution Kirche leisten.
Lieber Herr Schubert,
vielen Dank für die ausführliche und sehr persönliche Stellungnahme. Ja, es ist furchtbar, was Sie und Ihre Familie da erlebten. Und ganz bestimmt keine Einzelfälle. Natürlich könnte ich nun die Gegenrede über die vorbildlichen Reaktionen der “Kirchenleute” halten, aber das möchte ich gar nicht. Denn alle Worte die ich hätte würden nichts besser machen. Mir bleibt nur: es tut mir sehr leid.
Was das Engagement der Ehrenämtler oder die Institutionen der Kirche wie Diakonie, Kitas etc angeht: es geht mir gar nicht darum, dass “Kirche alles besser kann/macht”. Es geht mir darum, dass im Sinne der Solidargemeinschaft ganz viel von Kirche übernommen und finanziert wird, was aber von allen genutzt werden kann. Und dass die Kommunen (und damit die Allgemeinheit) große Probleme bekommt, wenn diese Aufgaben nicht mehr erfüllt werden können. Die Stadt Wermelskirchen wäre gar nicht in der Lage, plötzlich 3 Kindergärten zu übernehmen und finanzieren. Nur ein Beispiel. Wer also sein bisschen Kirchensteuer, die sich ja von der Lohnsteuer berechnet und ansetzungsfähig ist, weiterhin übernimmt, tut damit etwas für die Allgemeinheit. Dieses Wissen ist mir wichtig. Wer sich trotzdem entscheidet, auszutreten, hat dazu jedes Recht der Welt. Mich stören lediglich die von mir im Kommentar genannten Argumente…..
Es gibt zwei große, bedeutende Solidargemeinschaften in unserer Gesellschaft. Das sind Gewerkschaften und die Kirchen. Beide leisten unermesslich viel Arbeit für die Gesellschaft. Zugegeben: Bei der katholischen Kirche gibt es große Defizite was die Selbstwahrnehmung betrifft. Bei den Protestanten ist es einfacher . Wird die Gesellschaft besser, wenn Mann/Frau austritt? Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht.
Zweifellos würde ohne die Kirchen in vielen Bereichen des sozialen Lebens eine erhebliche Lücke entstehen. Das hat mir meinen Austritt aus der kath. Kirche auch sehr schwer gemacht. Am Ende überwog aber die mangelnde Identifikation mit einer Institution, deren “Obere” immer noch überwiegend mittelalterliche Moralvorstellungen propagieren und herbe persönliche Enttäuschungen über das “Bodenpersonal”. So oder ähnlich geht es vermutlich vielen Austretenden…
Lieber Marcus Richter,
vielen Dank für die ehrliche Rückmeldung. Ich kann nur für die Evangelische Kirchengemeinde, und da auch nur für Wermelskirchen sprechen: das Bodenpersonal ist schon ziemlich klasse 😅… Natürlich sind es Menschen, da werden Fehler gemacht und keine menschliche Schwäche ist uns fremd. Wenn aber diese Fehler oder Schwächen zu einer Entscheidung führen, der Kirchengemeinde den Rücken zuzudrehen, dann wären wir soooooo dankbar über ein Gespräch. Leider erfahren wir im Presbyterium erst viele Wochen nach dem Austritt von der Entscheidung; Austreten geht halt über’s Amtsgericht und nicht über das Gemeindebüro 😥. Somit erfahren wir auch nur in den seltensten Fällen von den Gründen für diese Entscheidung. Dabei geht es mir/uns gar nicht darum, den Austrittswilligen mit aller Macht von seinem Entschluss abzuhalten; wir möchten Kirche gerne so attraktiv weiterentwickeln, dass es den Menschen (wieder) Freude macht und wichtig ist, Teil davon zu sein❤️. Denn dort ist der Platz, an dem von Gott, von Jesus, von Paulus, von Maria, Mirjam und Hagar erzählt wird. Geschichten, Erlebnisse, die auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Hach. Sie merken vielleicht, wie sehr mir auch das am Herzen liegt….🥰