Die Müngstener Brücke ein technisches Wunderwerk, gestern, heute und morgen
Den Vortrag von Prof. Dr. Horst A. Wessel, Vorsitzender des Vereins Mannesmann e.V., entnehmen wir dem Waterbölles, dem kommunalpolitischen Forum für Remscheid:
VON PROF. DR. HORST A. WESSEL
Als ich neulich meinen Laptop startete, erschien als Bildschirmschutz eine Bogenbrücke mit dem Hinweis: „rekordverdächtige Brücken befinden sich oft nicht in so wunderschönen Gegenden, aber dieses Meisterwerk…“ Dabei handelte es sich, wie ich dann erfuhr, um die Puente de Bacunayua im Norden Kubas. Sie gilt nicht allein als „ein wahres Meisterwerk der Technik“, sondern auch als „eines der sieben Wunder der kubanischen Architektur“.
Dieses 1959 fertig gestellte Brückenbauwerk ist, wie unschwer zu erkennen ist, eine Bogenbrücke. Mit einer Länge von 313,5 m und einer Höhe von 110 m sowie 16 m Breite ist sie die größte Brücke des Landes. Hinsichtlich ihrer Maße und der Konstruktion vermag die jüngere Schwester die Müngstener Brücke nicht zu übertreffen, und auch nicht, was die Schönheit der sie umgebenden Landschaft anbetrifft. Im Übrigen handelt es sich um eine Brücke aus Stahlbeton und damit um ein Bauwerk, dessen Lebenserwartung erfahrungsgemäß geringer ist als die einer gepflegten Stahlbrücke. Allerdings eins hat sie der Müngstener Brücke (noch) voraus: öffentlich genutzte Gehwege!
Die Müngstener Brücke, das Aushängeschild des Bergischen Landes, ist von der nordrhein-westfälischen Landesregierung zur Aufnahme in die Tentativliste für das UNESCO-Welterbe vorgeschlagen worden. Das erfüllt die Einwohner und Freunde des Bergischen Landes mit Freude und Stolz. Die Tourismusbranche, von der im Städtedreieck des Wupperbogens mehr als 8.500 Arbeitsplätze abhängen, rechnet dadurch zu Recht mit einer Steigerung der Attraktivität der Region und mit einer wachsenden Zahl von Tagestouristen und Urlaubsgästen. Dabei ist es zweifellos von Vorteil, die Fahrt durch die bergische Landschaft und vor allem über die Brücke zum einen als direktes, besonderes Erlebnis anzubieten und zum anderen als ebenso zweckmäßige wie angenehme Verbindung zwischen den Großstädten Remscheid und Solingen und insbesondere den vielfältigen Sehenswürdigkeiten im Wupperbogen zu nutzen.
Bei der Bewerbung zur Aufnahme in das von der UNESCO anerkannte Welterbe ist, was aus heutiger Sicht nahe liegt, vor allem die Konstruktion des Bauwerks als Großbogenbrücke, also die Ingenieursleistung, herausgestellt worden. In der Tat war und ist diese 107 m hohe und 415 m lange Großbogenbrücke ein technisches Wunderwerk. Sie war bei ihrer feierlichen Einweihung am 15. Juli 1897, das war vorgestern vor 125 Jahren, die höchste Eisenbahnbrücke der Welt und ist heute immer noch die größte in Deutschland. Die Brücke ist ein herausragendes Beispiel der damaligen Ingenieurskunst und der Architektur – und das mitten in der schönsten Natur.
Die filigrane, fast 5.000 Tonnen schwere Eisenkonstruktion wird durch 934.456 Nieten zusammengehalten – einer von ihnen, der letzte, soll angeblich aus Gold sein. Einer anderen Quelle zufolge soll es sich um einen Bronzeniet mit einem vergoldeten Kopf handeln. Eine im MAN-Archiv überlieferte Niederschrift datiert diesen letzten Nietvorgang auf den 22. März 1887, den 100. Geburtstag von Kaiser Wilhelm I., den ersten Kaiser des 1871 geeinten Deutschen Reichs.

Gefunden wurde der „Goldniet“ noch nicht. Beim Niet handelt es sich um ein vorgeformtes längliches Eisenteil mit einem Kopf, vergleichbar mit einem Nagel, jedoch ohne Spitze. Der Durchmesser ist etwas kleiner als das Nietloch in den Teilen, die miteinander verbunden werden sollen, und dessen Länge ist etwas größer als die Stärke der beiden Teile, die miteinander verbunden werden sollen.
Das Nieten war anspruchsvolle und beim Brücken- und Hochbau auch gefährliche Teamarbeit. Der Nietenheizer übernahm das Erwärmen der Nieten in einem Schmiedefeuer in möglichster Nähe der Arbeit. Der Nietenheizer holte den rotglühenden Niet mit einer Zange aus der Glut und warf ihn dem Gegenhalter zu. Dieser fing den Niet mit einem Fangeimer aus Blech auf, griff ihn mit einer Zange und steckte ihn durch das Nietloch. Da der Niet etwas kleiner im Durchmesser als das Nietloch war, konnte er leicht und ohne Stauchung hindurchgeschoben werden. Anschließend drückte er den auf dem Nietloch festsitzenden Nietkopf mit einem Werkzeug gegen das Konstruktionsteil, während auf der Gegenseite der Kopfsetzer das überstehende Ende mit einem Kugelkopfhammer zum Setzkopf verformte. Unter dessen Schlägen wurde auch der in dem Nietloch steckende Teil des Niets verdickt und das Nietloch vollständig ausgefüllt. Jeder der 934.456 Nieten der Brücke musste einzeln verarbeitet werden.
Das fachgerecht ausgeführte Nieten erforderte Erfahrung und war zeitaufwendig, bot jedoch auch die Gewähr für feste und lange Haltbarkeit. Es gab damals, bis zur Einführung moderner Schweißtechniken, keine bessere Methode, Teile von Eisenkonstruktionen sicher und haltbar mit einander zu verbinden. Genietet wurden nicht allein Brücken und Stahlhochbauten wie die „Wolkenkratzer“ in der Neuen Welt, sondern auch Dampfkessel, Gasometer und sogar Schiffe. Nicht wenige dieser Konstruktionen – beispielsweise die Müngstener Brücke oder der wenige Jahre ältere Eiffelturm – sind weit mehr als 100 Jahre alt.
Dass das imposante Bauwerk Müngstener Brücke dennoch mindestens dreimal ernsthaft in seinem Bestand gefährdet war, hat andere Gründe. Vor allem wegen seiner wirtschaftlichen und militärstrategischen Bedeutung war während des Zweiten Weltkriegs der britischen Luftwaffe daran gelegen, die wichtigste Verkehrsverbindung zwischen den beiden Industriezentren Remscheid und Solingen zu unterbrechen. Der Zielanflug wurde durch den Flussverlauf erleichtert, jedoch durch die bei Fliegergefahr durchgeführte Vernebelung des Wupperlaufes erschwert. Die mehrfach geflogenen Angriffe richteten nur geringe Schäden an.
Am Ende des Krieges waren es dann deutsche Truppen, die durch eine Sprengung den Vormarsch der bereits auf Remscheider Gebiet stehenden amerikanischen Truppen aufhalten wollten. Der bereits erteilte Befehl wurde nicht ausgeführt. An den Vorschlag, die in die Jahre gekommene Brücke wegen einiger abgenutzter Teile abzubrechen und durch eine Stahlbetonkonstruktion zu ersetzen, können wir uns nur zu gut erinnern. Er wurde zum Glück – auch wenn der Neubau einen Rad- und Fußweg vorsah – nicht realisiert. Das ist vor allem dem Widerstand der Bevölkerung zu verdanken, die ihre Brücke behalten wollte, sowie Prof. Walter Buschmann vom Landschaftsverband Rheinland, der die Einzigartigkeit des Bauwerks in einem Fachgutachten mit Nachdruck unter Beweis stellte. Die Brücke wurde durch eine ebenso zeit- wie kostenaufwendige Sanierung für eine weitere jahrzehntelange Nutzung ertüchtigt. So blieb uns das Wunderwerk auf Dauer erhalten.
Viele Zeitgenossen hatten den Bau dieser Brücke vor 125 Jahren für unmöglich gehalten. Ernsthafte und für sie folgenschwere Zweifel an der Durchführbarkeit des Vorhabens bzw. an der Tragfähigkeit der Brücke sollen angeblich sogar dem Chefkonstrukteur, Anton Rieppel, und dem leitenden Baurat, Geheimer Baurat Brewitt von der Königlichen Eisenbahndirektion in Elberfeld, gekommen sein. Angeblich haben sich beide in ihrer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit das Leben genommen. Der eine soll sich erschossen haben, der andere am Tag vor der Belastungsprobe von der Brücke in den Tod gesprungen sein.
In Wirklichkeit haben beide nicht nur die Vollendung des Bauwerks und die erfolgreiche Inbetriebnahme erlebt, sondern sind hochgeehrt viele Jahre später eines natürlichen Todes gestorben. Für den Chefkonstrukteur war die Brücke ein wichtiger Schritt auf seinem Weg an die Spitze des MAN-Konzerns, dessen Brückenbauabteilung in Gustavsburg bei Mainz sich diesen Bau zugetraut hatte. Rieppel erhielt nach der erfolgreichen Fertigstellung den Ehrendoktor von gleich drei deutschen Universitäten; außerdem durfte er sich ab 1906 von Rieppel nennen.
Davon abgesehen sind jedoch bei der Errichtung der Müngstener Brücke zehn Arbeiter tödlich verunglückt. In Anbetracht der gefährlichen Arbeit in großer Höhe – und dass auch bei widrigen Wetterbedingungen – und dem Fehlen heute selbstverständlicher Schutzmaßnahmen und Schutzausrüstung – war man noch glimpflich davon gekommen; immerhin waren bis zu 160 Arbeiter gleichzeitig auf der Baustelle tätig, und das über vier Jahre!
Die Brückenkonstruktion war eine außerordentliche Leistung, die wir noch heute zu Recht bewundern. Sie hätte auch weit weniger imposant ausfallen können, wenn einer der anderen eingereichten Entwürfe realisiert worden wäre – beispielsweise sah die von der GHH in Oberhausen vorgeschlagene Gerüstbrücke nicht weniger als 20 Pfeiler vor. Dieses Ungetüm hätte die herrliche Landschaft verschandelt.
Unsere Müngstener Brücke ist etwas Besonderes, und das trifft auch für deren Bauausführung zu. Die Montage war in technischer Hinsicht bahnbrechend und zukunftsweisend. Man hat sie nämlich im sogenannten freien Vorbau, und das von beiden Talseiten aus gleichzeitig, realisiert. Das hatte man zuvor bei einem derartigen Brückenbauwerk noch nicht gewagt. Kein Wunder, dass nicht wenige der Zeitgenossen daran zweifelten, dass die beiden Brückenteile sich passgenau in der Mitte treffen und verbinden lassen würden. Man hielt ein Abweichen in der Höhe und seitwärts für unausweichlich.

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Die schweren Konstruktionsteile wurden mittels Kranen, die auf den auf einander zuwachsenden Brückenenden montiert waren, nicht nur hochgehoben, sondern auch in die zugehörige Position gebracht, darin gehalten und dann vernietet. Die Hebezeuge waren von der Kranbauabteilung der Duisburger Maschinenbau-Anstalt, einem Rechtsvorgänger der späteren DEMAG, eigens für diese Arbeiten konstruiert worden. Die damals noch ohne alle elektronischen Hilfsmittel, nur mit Rechenschieber durchgeführte statische und architektonische Ausarbeitung des Projekts war hochmodern und erlaubte eine wirtschaftliche und schnelle Ausführung.
Der Bedeutung des Bauwerks entsprechend hatte sie den Namen „Kaiser-Wilhelm-Brücke“, benannt nach Kaiser Wilhelm I., erhalten. Allerdings war der amtierende Kaiser, Wilhelm II., verhindert, an der feierlichen Einweihung teilzunehmen. In seiner Vertretung kam dessen Schwager, Prinz Friedrich Leopold von Preußen. Im August 1899 kam dann doch der Kaiser selbst. Nun war nicht Solingen, sondern Remscheid der Hauptort des Ereignisses. Der Kaiser erlebte Remscheid als reichgeschmückte Blumenstadt; Schulen und Vereine bildeten ein schier endloses Jubel-Spalier.
Auf seiner Fahrt zur 1891 eröffneten Eschbach-Talsperre, der ersten Trinkwasser-Talsperre Deutschlands – auch das eine herausragende Pionierleistung! -, die auch schon Prinz Leopold anlässlich der Brückeneinweihung besichtigt hatte, passierte der Kaiser auf der damaligen Kölner Straße (heute Burger Straße) mit sichtlicher Freude ein ganz besonderes „Blumenarrangement“: In den Schalen auf den Pfeilern der Mauer, die das Grundstück der Mannesmann-Villa umgab, saßen die neun Enkelkinder der Familie in Blumenkostümen und hielten Blumen in den Händen. Sie waren altersgemäß im Wechsel Mädchen/Junge angeordnet. Da es jedoch fünf Jungen und vier Mädchen waren, wären zum Schluss zwei Jungen aufeinander gefolgt. Folglich wurde der Jüngste zu seinem großen Unwillen, wie sein Sohn Paul zu erzählen wusste, in ein Mädchenkostüm gesteckt. Dem Kaiser dürfte das nicht aufgefallen sein.
Die deutschen Kaiser sind schon lange Geschichte, die Brücke, die einmal die „kaiserliche“ hieß, gibt es unter der schlichten Ortsbezeichnung „Müngstener Brücke“ noch immer! Zwar ist der Ort nur noch die Bezeichnung einer Flur am Zusammenfluss von Wupper und Morsbach, die sich aber über das Gebiet von Remscheid, Solingen und Wuppertal verteilt. Müngsten ist ein historischer Ort, der bereits im 13. Jahrhundert urkundlich erwähnt wurde und für die gewerbliche Entwicklung der Region von Bedeutung gewesen ist. Als die heute nach dem Ort benannte Brücke errichtet wurde, hatte er sieben Wohnhäuser mit etwas mehr als 80 Einwohnern. Zu den dort ansässigen Fabriken gehörte bis in die 1960er-Jahren die Sensenfabrik Halbach. Müngsten war bis nach dem Zweiten Weltkrieg Haltepunkt der Ronsdorf-Müngstener Eisenbahn, einer elektrisch betriebenen Kleinbahn, die von Barmen über Ronsdorf und Müngsten bis Solingen-Krahnerhöhe führte und über eine eigene kleine Brücke die drei Städte im Wupperbogen miteinander verbunden hat.
Von ausschlaggebender Bedeutung für die Errichtung der Müngstener Brücke war, was diese verkehrstechnisch und allgemein wirtschaftlich bewirken sollte und dann auch geleistet hat, nämlich eine schnelle und leistungsstarke Verbindung zwischen den beiden Gewerbezentren Remscheid und Solingen. Allerdings ist nicht hoch genug einzuschätzen, dass man bei der Konstruktion und auch bei ihrer Ortswahl auf die Landschaft Rücksicht genommen hat.
Ohne diese Brücke hätte die Region nicht so vielen Menschen Arbeit geben und damit Lebensgrundlage sein können. Insbesondere das durch schroffe Täler eingeschnürte und von der Außenwelt abgeschnittene Remscheid hatte sich vor dem Brückenschlag trotz aller Kreativität seiner Einwohner in seiner Existenz ernsthaft bedroht gesehen.
Der Wupperbogen ist die Region der Frühindustrialisierung. Jahrzehnte, bevor sich an Rhein und Ruhr die Industrie formierte, versorgten die Gewerbetreibenden im Bergischen Land die Weltmärkte mit Textilfabrikaten und Eisenerzeugnissen von herausragender Qualität. Elberfeld und Barmen, die erst 1929 mit weiteren Kommunen zur neuen Großstadt Wuppertal vereinigt wurden, erweiterten ihre bedeutende Textilerzeugung durch die Herstellung von Farben sowie weitere Zweige der Chemie (das Unternehmen Bayer hat hier und darin seinen Ursprung).
Lennep hat sich einen weltweit geschätzten Namen mit feinen Wolltuchen gemacht und an dem einträglichen Geschäft auch die Spinner und Weber in Lüttringhausen teilhaben lassen. Alt-Remscheid und seine Umgebung wurde zum überragenden Zentrum der Werkzeugindustrie. Seine Kaufleute bereisten mit Waren der Region und der weiteren Umgebung alle Kontinente, z.T. mit eigenen Seeschiffen. Davon leitet sich die Bezeichnung Remscheids als „Seestadt auf dem Berge“ her. Bereits in französischer Zeit gab es in Remscheid rund 90 Handelsunternehmen.
Die tüchtigen Schmiede und Schleifer in Solingen entwickelten ihre Heimat zur Klingenstadt; der Name Solingen wurde zum geschützten Markenzeichen ihrer weltweit geschätzten Produkte. Das unmittelbar an der Eisenbahnlinie, an der Station Solingen-Grünewald, liegende Museum „Plagiarius“ zeigt viele Beispiele für eine widerrechtliche Nachahmung – bis hin zu missbräuchlich verwendeten Markenzeichen.
Zahlreiche traditionsreiche Unternehmen haben ihren Standort entlang der Strecke des „Müngsteners“, wie aus nahe liegenden Gründen der zwischen Wuppertal und Solingen über Remscheid verkehrende Zug genannt wird Die Geschichte dieser Unternehmen und die ihrer Erzeugnisse sowie die über mehr als ein Jahrhundert lang ungebrochene Kreativität der dort Tätigen, die es ermöglicht hat, auch wirtschaftlich und politisch schwierige Zeiten zu überstehen und nach wie vor erfolgreich zu wirtschaften, ist es wert und für Besucher interessant, während der Fahrt erzählt zu werden.
Obwohl die Region viel zu wenig Möglichkeiten für eine ertragreiche Landwirtschaft bot, lebten hier bereits im 18. Jahrhundert erstaunlich viele Menschen. Das stellte verwundert auch der französische Kommissar Beugnot fest, der 1810 das Bergische Land bereiste: „Nichts als Einöde und Menschen.“ Die Bewohner Remscheids hatten die an und für sich schlechten Standortbedingungen zu ihren Gunsten genutzt und entlang der durch zahlreiche Niederschläge gespeisten, schnell fließenden Bäche Wasserräder zum Antrieb von Blasebälgen sowie zum Betrieb von Hammerwerken und Schleifkotten angelegt. Zahlreiche weitere Menschen verdienten ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien durch die arbeitsteilig organisierte Verarbeitung des Halbzeugs zu den verschiedenartigsten Werkzeugen. Die nicht existenzsichernde Landwirtschaft wurde nur im Nebenerwerb betrieben. Die Menschen im bergischen Städtedreieck und insbesondere im abgelegenen Remscheid schafften es, den Nachteil, nämlich den überwiegenden Teil ihres täglichen Bedarfs an Nahrungs- und Genussmitteln sowie die Roh- und Hilfsstoffe einführen zu müssen, durch ihre gewerbliche Tätigkeit mehr als auszugleichen.
Remscheid entwickelte sich zum weltweit führenden Zentrum der Werkzeug-, insbesondere der Sensen- und dann über weit mehr als 100 Jahre der Feilenherstellung. An die Sensenfertigung erinnert die Sichel im Stadtwappen von Remscheid. Die Feile war bis zur passgenauen Massenfertigung im 20. Jahrhundert das unverzichtbare Werkzeug. Sie wurden millionenfach in allen möglichen Formen und für jeden Zweck im optimalen Zusammenwirken von Schmieden, Hauern, Schleifern und Härtern gefertigt. Die Feilen, die auf der ersten Weltausstellung 1851 in London ausgezeichnet wurden, kamen aus Remscheid. Für sie gab es bereits eine zentrale Fertigungsstätte, Garant für gleichbleibende Qualität und Termintreue.
Das Unternehmen A. Mannesmann, in dem diese hergestellt worden waren, besteht heute noch. Es macht seit Mitte der 1950er Jahre keine Feilen mehr, dafür jedoch seit dem Ende der 1930er Jahren hochpräzise Maschinenelemente. Auch auf diesem Gebiet nimmt es weltweit eine Sonderstellung ein: Es werden bis 16 Meter lange Werkstücke hergestellt, die im μ-Bereich (weniger als die Dicke eines Menschenhaares) genau sind. A. Mannesmann ist einer der vielen „hidden champions“ im Städtedreieck.
Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielfach beklagte Kargheit und Unfruchtbarkeit der Landschaft findet ihre Erklärung darin, dass man die ehemals und heute erneut dichten Wälder abgeholzt hatte. Holz war bis weit in das 19. Jahrhundert hinein nicht nur das wichtigste Baumaterial, sondern auch der universelle Hausbrand; außerdem war daraus die Holzkohle für die vielen Schmiedefeuer und Stahlhütten hergestellt worden.
An eine nachhaltige Bewirtschaftung des Waldes dachten erst Unternehmer wie Reinhard Mannesmann sen., der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Wiederaufforstung des Remscheider Stadtwaldes anregte und gleichzeitig darauf drang, künftig nur so viel Holz einzuschlagen, wie nachwuchs. Übrigens ist dafür u.a. ein Teil der Remscheid in den 1870er-Jahren zufallenden französischen Kriegsentschädigung verwendet worden. Reinhard Mannesmann war es auch, der seine Arbeiter und sonstigen Interessenten im Obst- und Gemüsebau sowie in einer gesunden Lebensführung unterwies und zur Anlegung von Fischteichen Veranlassung gab, um die Ernährungsgrundlage zu erweitern. In Zusammenarbeit mit weiteren Unternehmern gründete er die Volksbank, die den Gewerbetreibenden Kredite gewährte und realisierte im Süden Remscheids den Bau der ersten deutschen Trinkwassertalsperre.
Seine Söhne Reinhard und Max erfanden u.a. eine nach ihnen benannte Methode, mit der aus dem massiven Stahlblock nahtlose Rohre gewalzt werden. Diese Rohre haben die Welt in entscheidenden Bereichen revolutionär verändert. Das Mannesmann-Verfahren ist noch heute, mehr als 135 Jahre nach seiner Erfindung in Remscheid, weltweit in Anwendung – nicht zuletzt in Remscheid, wo seit einigen Monaten die weltweit größte Kaltpilgermaschine arbeitet.
Dr. Otto Mannesmann, der jüngste von insgesamt sechs Söhnen von Reinhard Mannesmann sen., erfand das hängende Gasglühlicht, das eine Energieersparnis von bis zu 60 Prozent brachte. Bis in die 1930er Jahre war das Gasglühlicht weltweit die wichtigste Beleuchtung in den Wohnungen und Büros, in den Werkstätten und auf den Straßen und Plätzen. Wir nutzen es noch heute im Camping und in abgelegenen Berghütten. Düsseldorf hat sich dafür entschieden, mindestens 10.000 seiner Gaslaternen wegen seines warmen Lichts im Betrieb zu erhalten. Darüber hinaus ist das Gas, was wir zurzeit sorgenvoll zur Kenntnis nehmen, viel genutzte Energie zum Kochen und Heizen sowie zur Erzeugung von elektrischem Strom – selbst der Verbrennungsmotor ist im Grunde genommen ein Gasmotor – das von Nicolaus August Otto gegründete Unternehmen in Köln-Deutz trug den Namen „Gasmotorenfabrik Deutz“!
Keine Gasversorgung, kein Fahrzeug und kein Motor ohne haltbares und beliebig verformbares Rohr. Wo der „Blaue Mond“ über Bliedinghausen steht und hoffentlich in wenigen Wochen wieder leuchtet, dort kann der Zugreisende leicht die Höhe ausmachen, wo die Mannesmänner ihre zahlreichen Erfindungen gemacht haben und wo noch heute ihre Werke betrieben werden, wo sie gewohnt und u.a. 1911 den marokkanischen Außenminister auf seiner Reise nach Berlin zu Besuch hatten.
Andere wagemutige und kreative Unternehmer wie Lindenberg und Diederichs haben besondere Stahlqualitäten wie den Glocken- und den Dirostahl erfunden, oder haben als erste weltweit im Elektroofen Qualitätsstahl erschmolzen – der erste industriell betriebene Elektrostahlofen bildet ein Glanzstück in der umfangreichen Sammlung des Deutschen Werkzeugmuseums.
In Lennep ist es dem Unternehmer Ernst Blissenbach in den 1980er-Jahren gelungen, ein Werkzeug zu konstruieren, mit dem der Innengrad eines geschweißten Rohres auch kleinerer Durchmesser entfernt wird – das Unternehmen Ernst Blissenbach steht auch nach Jahrzehnten mit seinem Können einmalig in der Welt da und wurde bereits mehrfach als eines der besten Unternehmen in Deutschland ausgezeichnet. Das Familienunternehmen Vaillant ist seit über 145 Jahren führend bei energiesparenden und umweltschonenden Systemen für das Heizen, Lüften und die Warmwasserbereitung sowie erneuerbare Energien. Selbst traditionelle Hersteller von Maschinenmessern, wie das auf der Fahrt nach Solingen-Schaberg an der Strecke liegende kleine Familienunternehmen Pott, arbeiten seit Generationen erfolgreich, weil sie nicht nur Qualität liefern, sondern kundennah spezielle Probleme zu lösen in der Lage sind.
Andere Werkzeughersteller bieten nicht allein besondere Lösungen für ihre Kunden, sondern haben auch selbst fortschrittliche Wege in der Produktion beschritten. Beispielsweise das an der Strecke des „Müngsteners“, gleich an der Station Güldenwerth liegende und in der fünften Generation geführte Familienunternehmen HAZET. Kaum noch jemand weiß, dass diese Bezeichnung, die fast jedem bei Qualitätswerkzeugen, dem Werkzeugkasten „Assistent“ oder einem Drehmoment-Schlüssel schon einmal begegnet ist, für Hermann Zerver steht, der das Unternehmen 1868 gegründet hat.
In diesem Zusammenhang darf die FAMAG nicht unerwähnt bleiben, die aus der 1865 gegründeten Remscheider Bohrer-Fabrik hervorgegangen ist. Sie fertigt Qualitätswerkzeuge vom Feinsten und das mit modernsten Anlagen – kritische Fachleute bezeichnen die FAMAG-Bohrer als „Weltbeste“. Ein Remscheider Traditionsunternehmen hat sogar einen wesentlichen Beitrag zur Revitalisierung der Brücke geleistet. Die Fa. Poetsch an der Reinshagener Straße, die spezialisiert ist auf Dreh- und Fräsarbeiten mit CNC-Technik, lieferte die Radial-Gelenklager für die neu gebaute Fahrbahnbrücke mit der Oberkante der alten Gerüstbrücke. Diese sorgen dafür, dass die Tonnenlasten der Züge auf die Gerüstkonstruktion übertragen und verteilt werden. 126 Lager wurden geliefert, jedes zwischen 400 und 750 kg schwer, jedes eine Einzelfertigung, weil die Auflageflächen sich unterscheiden.
Diese und viele weitere Traditionsunternehmen, vor allem in Remscheid, litten unter der schlechten Verkehrslage der Stadt. Noch 1815, als das Rheinland preußische Provinz geworden war, verfügte Remscheid trotz seiner weltweiten Handelsbeziehungen noch über keine leistungsfähigen Verkehrsanbindungen. Die Transportkosten waren hoch und zunehmend existenzbedrohend. Die preußische Regierung stellte 1816 fest: „Bei besseren Straßen hätte Remscheid sich schon längst zu einem zweiten Birmingham entwickelt.“ Birmingham war damals in der fortschrittlichen englischen Industrie der führende Standort der Stahlerzeugung und insbesondere die Feilenherstellung.
Rasch versuchte man, Remscheid aus der Sackgasse zu befreien und erlaubte in Anbetracht der Geländeverhältnisse beim Straßenbau ausnahmsweise sogar doppelt so starke Steigungen als normal. Zu den Straßen, die in der frühen preußischen Zeit ausgebaut wurden, gehörte auch die von Remscheid über Müngsten nach Solingen. Zwar heißt die im Zuge dieser Straße errichtete Wupperquerung „Napoleonsbrücke“, aber diese Sandsteinbrücke wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts, also Jahrzehnte nach dem Ende des französischen Großherzogtums Berg, gebaut.
Die Anlage fester Straßen konnte sich nicht lange auf die zu hohen Transportkosten auswirken; denn ab der Mitte des Jahrhunderts entstanden anderen Orts immer mehr Eisenbahnlinien, die hinsichtlich der Transportkosten unschlagbar waren. Es wurde für die Remscheider Fabrikanten immer schwieriger, die lagebedingten Nachteile durch weitere Erfindungen und Verbesserungen der Produktionsweisen auszugleichen. Im wachsenden Umfang mussten die Fabrikanten und ihre Beschäftigten Erlöseinbußen und eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen sowie eine Abwanderung von Fachkräften in Kauf nehmen. Vor allem fehlte eine leistungsfähige, kostengünstige Verbindung nach Solingen, mit dessen Industrie man arbeitsteilig zusammenwirkte, sowie zu den Rheinhäfen in Hitdorf, Mülheim und Köln. Am besten war eine Eisenbahnverbindung; denn diese war sogar im Vergleich zu den ausgebauten Kunststraßen in der Ebene noch um 40 Prozent günstiger.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Anbindung an das Schienennetz für die Remscheider Industrie zu einer (Über-) Lebensfrage. Die Rhein-Weser-Eisenbahn kam nicht über die Planung hinaus, die Cöln-Mindener Eisenbahn wurde aus Kostengründen nicht über Elberfeld, sondern über Düsseldorf geführt. Eine Eisenbahnverbindung von Solingen über Remscheid nach Elberfeld (mit Anschluss nach Düsseldorf) fand keine staatliche Unterstützung und war wegen der schwierigen Terrainverhältnisse nicht privat zu realisieren. Die Beteiligung am Bau einer Eisenbahn von Remscheid über Lennep und Lüttringhausen nach Oberbarmen brachte eine Erleichterung, jedoch keine zufriedenstellende Lösung des Problems. Lennep blieb wie bereits seit dem Mittelalter das (Zwischen-)Ziel, um aus Remscheid in die Welt zu kommen. Die später errichtete und bis Anfang der 1950er-Jahre betriebene elektrische Kleinbahn von Barmen über Müngsten nach Solingen-Krahnerhöhe war ein nur unzureichender Ersatz für eine leistungsfähige Eisenbahnverbindung mit Anschluss an Fernbahnlinien.
Die benötigte Verbindung nach Solingen und weiter an den Rhein, die außerdem die Strecke von Elberfeld nach Solingen von 44 auf 11 km verkürzt hätte, wäre längst hergestellt worden, wenn nicht der Übergang über die Wupper gewesen wäre. Dieser war technisch überaus schwierig und finanziell lange Zeit unmöglich. Ein Antrag auf Bauplanung erfolgte bereits 1882, wurde jedoch wegen technischer Undurchführbarkeit abgelehnt. Weil die Verbindung jedoch dringend erforderlich war und es keine Alternative gab, brachten die Stadtverordnetenversammlungen und die Handelskammern der Städte Solingen und Remscheid 1886 eine gemeinsame Entschließung ein, die an der Dringlichkeit der Wupperquerung keinen Zweifel ließ.
Daraufhin bewilligte der rheinische Landtag 1890 den damals außerordentlich hohen Betrag von 5 Mio. Mark für den Bau einer Wupperbrücke. Remscheid und Solingen übernahmen ein Drittel der Grunderwerbskosten für die Eisenbahn. 1894 begann man mit dem Bau der Brücke; am 22. März 1897 wurde er mit dem Einschlagen des letzten Niets beendet. Für den Frachtverkehr war die Brücke jahrzehntelang weitaus wichtiger als für den Personenverkehr. Remscheid war fortan kein Sackbahnhof mehr, sondern eine wichtige Station auf der Strecke Elberfeld – Solingen.
Schon damals war die Brücke wegen ihrer Einzigartigkeit und ihrer Einbettung in eine außergewöhnliche Landschaft ein Touristenmagnet internationaler Qualität. Menschen aus Nah und Fern kamen, um diese Brücke zu sehen und eine Fahrt über die Brücke und durch die Landschaft zu genießen. Das Deutsche Reich war stolz auf dieses Bauwerk – bezeichnenderweise wurde das Modell der Brücke auf der Weltausstellung von 1900 in Paris gezeigt. Das Deutsche Museum präsentierte damals (und heute immer noch) in einer speziellen Abteilung ein Diorama von Brücke und Landschaft im Maßstab 1:100. An Attraktivität hat die Brücke auch später nichts eingebüßt. Ich kann mich noch gut an meine erste Klassenfahrt in den frühen 1950er-Jahre erinnern. Sie hatte als Ziel Schloss Burg und vor allem die Müngstener Brücke. Noch heute ist die Brücke Ausgangs- und Endpunkt meiner regelmäßigen Wupperwanderungen.
Die Müngstener Brücke – ein „bergischer Eiffelturm“ ?
In manchen, vor allem zeitgenössischen Veröffentlichungen findet man die Behauptung, die Müngstener Brücke sei eine flach gelegte Kopie des Eiffelturms. Sie sei die deutsche Reaktion auf die Errichtung des Eiffelturms acht Jahre zuvor. Nun ist ein derartiger Vergleich keineswegs ehrenrührig. Im Gegenteil! Wer wollte nicht mit einem Bauwerk verglichen werden, dass einen derart weltweiten Bekanntheitsgrad hat und heute zu Recht als Wahrzeichen der französischen Hauptstadt gilt? Welches Bauwerk kann sich schon rühmen, Jean Costeau zu einem Ballett („Die Verheirateten des Eiffel-Turms“), für das Arthur Honegger die Musik komponiert hat, und das Graham Greene zu der Erzählung „Der Mann, der den Eiffelturm stahl“ angeregt zu haben? Aber dieser Vergleich war keineswegs positiv gemeint, sondern abwertend. Was hat es nun auf sich mit der unterstellten Abhängigkeit?
Zweifelsohne haben Turm und Brücke ihren gemeinsamen Reiz in der „filigranen Konstruktion“. Auch hinsichtlich der Fertigung gibt es Gemeinsamkeiten; denn bei beiden wurden alle bis 4.000 kg = 200 t schweren Teile (mit allen auf ein Zehntel Millimeter genau berechneten Nietlöchern) in der Werkstatt gefertigt, dort zur Sicherheit verschraubt, dann in einzelnen Teilen zur Baustelle transportiert und nach der genauen Ausrichtung warm vernietet. Beim Bau wurden hier wie da Kräne eingesetzt, aber die gab es auch schon beim Bau des mittelalterlichen Doms in Köln.
Während jedoch beim Kölner Dom und beim Eiffelturm die Hebezeuge „nur“ zum Transport der Bauteile verwendet wurden, dienten sie bei der Müngstener Brücke zum Bau selbst. Dieser wurde von beiden Seiten gleichzeitig als sogenannter „Freivorbau“ mittels spezieller, eigens dafür entwickelter Kräne durchgeführt. Zwar hatte Eiffel gleichfalls bei einem seiner Brückenbauten den beidseitigen Vorbau praktiziert, aber dafür Stahlkabeln zur Stabilisierung der Konstruktion verwendet. Beim Bau der Müngstener Brücke waren wegen dieser neuartigen Montage ohne das sonst übliche teure Lehrgerüst, das die Kräfte bis zum fertigen Bogenschluss aufnahm, neue Berechnungen bei der Konstruktion und vor allem auch bei der Montage erforderlich. Gustav Eiffel war beim Bau seines Turms auf dem Höhepunkt seines Schaffens; der junge Brückenbauingenieur Anton Rieppel erreichte mit der Müngstener Brücke einen neuen Höhepunkt seines Schaffens.
Der Kostenanschlag wurde beim Eiffelturm bei weitem überschritten; beim Bau der Müngstener Brücke jedoch nicht nur eingehalten, sondern sogar noch um eine beträchtliche Summe unterschritten. Auch im Vergleich mit den Baukosten anderer Brücken, war die Müngstener Brücke preiswert. Das lag im Wesentlichen an der besonderen Konstruktion und Montage, für die kein aufwendiges Lehrgerüst benötigt wurde – das hat sich auch auf die Bauzeit positiv ausgewirkt. Übrigens, und auch das ist für die damalige Zeit bemerkenswert: die Hebezeuge und die meisten Maschinen wurden bereits elektrisch angetrieben. Weil an der Baustelle noch kein elektrischer Strom zur Verfügung stand, hatte man auf beiden Seiten der Wupper je eine dampfbetriebenen Dynamomaschine von 23.000 W Leistung aufgestellt. Um die Montagearbeiten auch bei schlechten Sichtverhältnissen durchführen zu können, wurde die Baustelle beleuchtet.
Es gibt noch einen weiteren ganz wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Bauwerken: Der Eiffelturm ist ausschließlich für die Weltausstellung errichtet worden und sollte spätestens nach 20 Jahren wieder abgerissen und verschrottet werden. Er hatte lediglich die Funktion, als nicht zu übersehendes Wahrzeichen der Ausstellung zu dienen. Allenfalls sollte er zeigen, was mit Eisen möglich ist. Die Antenne für den Funkverkehr sowie die Forschungsstation für Wetterbeobachtungen und physikalische Experimente erhielt der Turm beim verzweifelten Versuch, den bereits feststehenden Abriss zu verhindern.

„Schön“ hat ihn kein Zeitgenosse genannt. Im Gegenteil! Er wurde als „scheußlich“ und „überaus hässlich“, als ein „Unding“ und ein „Kuriosum“ bezeichnet. Charles Garnier, der Erbauer der Pariser Oper, sah in ihm immerhin „eine sehr interessante Kuriosität, aber nicht ein unersetzbares Element der Ausstellungen“. Man sah es nicht als illegitim an, sein Verschwinden ins Auge zu fassen. Aber dieses „ungewöhnliche“, wenn auch „unsinnige Objekt“ zog Leute an. Letztlich war es der anhaltende Besucherandrang, der den Turm vor dem Abriss bewahrt hat.
Dagegen hat die Müngstener Brücke von Anfang an eine wichtige und in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzende Aufgabe und Funktion. Sie „überbrückt“ im wahren Wortsinne das tief eingeschnittene Tal der Wupper, verbindet die bedeutenden Gewerbezentren Solingen und Remscheid und brachte Letzterem damals den ersten leistungsfähigen Anschluss an das Weltverkehrsnetz.
Abgesehen von ihrer herausragenden Bedeutung gilt diese Brücke auch heute noch wie damals als eine überaus gelungene konstruktionstechnische Lösung zur Beendigung des viel zu lange bestandenen Verkehrsproblems. Noch heute ist die S7 („Der Müngstener“) für Remscheid der einzige Zugang zum weltweiten Bahnnetz.
Die Müngstener Brücke ist ein absolutes Spitzenprojekt des deutschen Eisenbaus; sie ist einzigartig und bracht keinen Vergleich zu scheuen. Sie ist formschön und wird in ihrer ganzen Art den außergewöhnlichen Leistungen der Region und ihrer Menschen im vollen Umfang gerecht; darüber hinaus passt sie auch noch ausgezeichnet in diese wunderschöne bergische Landschaft. Als „monument historique“, als das der Eiffelturm seit 1963 gilt, dürfen wir ohne Abstriche auch die Müngstener Brücke ansehen. Die von der Deutschen Post herausgegebene Briefmarke würdigt das technische Werk und unterschlägt die Landschaft – schade, denn dann ergibt 1 + 1 = 3+!
Weiterentwicklung der Brücke zur Verkehrsmagistrale
Für den Personenverkehr per Bahn ist die Müngstener Brücke nach wie vor von großer Bedeutung; auch für den Güterverkehr soll sie bald wieder zur Verfügung stehen. Für meine vielen Fahrten von Hilden nach Remscheid gibt es keine Wahl: Der „Müngstener“ über Solingen und die Müngstener Brücke ist schneller als jede Autoverbindung. Und er bietet eine abwechslungsreiche Fahrt – zum einen wegen der Landschaft, die durchfahren wird, zum anderen wegen der dabei erlebten Wirtschaftsgeschichte, die nach wie vor erfolgreich weitergeschrieben wird.
Entlang dieser Strecke und weiter bis nach Wuppertal begegnet man, wie oben beispielhaft gezeigt wurde, einer Fülle von Zeugnissen kreativer Gewerbetätigkeit mit zum großen Teil bedeutender Tradition sowie kultureller Zeugnisse von hohem Rang – immerhin wurde das Herzogtum Berg einmal von hier regiert und noch nicht von Düsseldorf! Zugleich erlebt man eine abwechslungsreiche Landschaft, die vom Zug aus ungestört genossen werden kann. Geradezu Atem raubend ist der Blick von der Müngstener Brücke hinab ins Tal. Darüber und vieles andere mehr lohnt sich zu berichten – am besten anlässlich einer derartigen kurzweiligen Eisenbahnfahrt mit einem Brückenschlag zwischen den Städten im Wupperbogen und zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Gestatten Sie mir, zum Schluss, eine interessante Zukunftsperspektive für die Müngstener Brücke aufzugreifen: Diese beruht im Wesentlichen auf der Weiterentwicklung der Brücke zur Verkehrsmagistrale und realisiert eine bereits an anderen Orten mit Erfolg eingerichtete Mischnutzung der Brücke. Auch im Wupperbogen sind vor Jahren ehemalige Eisenbahntrassen umgebaut worden; diese werden zur Freude der Einheimischen sowie zahlreicher Tages- und Urlaubsgäste zum Fuß- und Zweiradwandern genutzt. Nun ist keineswegs daran gedacht, die Müngstener Brücke, die der Deutschen Bahn gehört, umzuwidmen. Sie soll vielmehr eine zusätzliche Funktion erhalten, die ihre Attraktivität noch steigert und damit (wie im Falle des Eiffelturms) auf Dauer sichert.
Bei der Müngstener Brücke, dem höchsten Brückenbauwerk Deutschlands in einmaliger Landschaft bietet sich nämlich die Möglichkeit einer Ergänzung durch einen Fuß- und Radweg – und das bei fortgeführtem Eisenbahnverkehr und ohne jeden kostspieligen Umbau der Brücke. Dieser Weg könnte unterhalb der Gleisebene verlaufen und leicht durch robuste Seile und Netze gesichert werden.
Die zurzeit angebotenen Klettertouren sprechen nur eine kleine Zahl von Menschen an; die Schar derjenigen, die der Gang oder die Fahrt mit dem Zweirad über die Brücke reizt, die ist vielfach größer. Für eine derartige Mischnutzung bieten andere Exemplare der europäischen Großbogenbrücken-Familie, die gemeinsam mit der Müngstener Brücke für die Aufnahme in die Tentativliste vorgeschlagen wurden, treffende Beispiele.
Die Werbekraft der Brücke als einzigartiges Bauwerk in bau- und verkehrstechnischer Hinsicht sowie als zukünftiges Welterbe würde durch eine derartige Mischnutzung noch beträchtlich gesteigert werden. Dieses technische Denkmal in einer wunderschönen Landschaft ist dann nicht allein anlässlich einer nur kurzen Eisenbahnfahrt über die Brücke oder einer Wanderung unterhalb des Brückenbogens, sondern auch bei einer Wanderung über die Brücke – mit beliebigen Pausen und tollen Ausblicken – zu erleben. Viele Menschen zusätzlich werden sich dann für einen Besuch in der Region des Wupperbogens entscheiden und anschließend durch ihren Bericht über das einzigartige Erlebnis, vor allem vom Aufenthalt auf der höchsten Eisenbahnbrücke Deutschlands, viele weitere Menschen für einen Besuch begeistern. Die Brücke würde dadurch kreativ fortentwickelt, ohne ihren Charakter zu verlieren.
Zugleich würde die Brücke eine wesentliche Funktion im Zusammenhang mit dem Ausbau von Fuß- und Radwegeverbindungen im alltäglichen Gebrauch übernehmen können. Remscheid und Solingen sind Städte mit beständig großen Pendlerströmen, die im Zuge der Verkehrswende neu zu betrachten sind. Wesentliches Hindernis für eine alltäglich nutzbare Radwegeverbindung zwischen den Räumen Remscheid und Solingen ist die für den Radverkehr ungünstige Topographie. Diese zu überwinden ist der Eisenbahn vor mehr als 125 Jahren gelungen; daran darf man getrost anknüpfen. Die Müngstener Brücke kann im Verbund mit den bestehenden bergischen Fahrradtrassen unter Einbindung neuer Teilabschnitte zu einer regional wichtigen und zu einer überregional bedeutenden Radwegeverbindung, und das abseits des Kraftverkehrs, entscheidend beitragen.
Das Fahrrad ist nicht mehr nur Sportgerät, sondern das Zentrum der angestrebten und unumgänglichen Mobilitätswende. Die Nutzung der Brücke als Rad- und Fußweg würde die Anbindung der dicht besiedelten Region auf einer wichtigen Hauptverkehrsachse nachhaltig verbessern. Eine derart günstige Verbindung zwischen Remscheid und Solingen könnte angesichts der grassierenden Energieknappheit und damit steigender Mobilitätskosten viele Menschen dazu motivieren, zur Bewältigung derartiger Strecken auf das Fahrrad umzusteigen. Die Verkehrswende im Bergischen Land wird maßgeblich von der Nutzung der Brücke abhängig sein. Die Brücke hat vor 125 Jahren der Region eine Mobilitätswende gebracht und deren erfolgreiches Weiterbestehen als Gewerbezentrum und Erholungsregion gesichert. Es liegt an uns, durch die erweiterte Nutzung der Brücke eine neue, nachhaltig wirkende Mobilitätswende herbeizuführen.
Eine Gefährdung des Welterbe-Status sehe ich durch diese Ergänzung nicht. Ganz im Gegenteil: Das Denkmal lebt und wird vielfältig von möglichst vielen Menschen sinnvoll genutzt und von nicht wenigen von ihnen auch genussvoll erlebt. Genau das wird von der UNESCO-Kommission erwartet! Handeln wir entsprechend! (“Nachdruck aus dem Waterbölles“)
Beitragsfoto: Müngstener Brücke zwischen Remscheid und Solingen mit DB-Baureihe 628 © Stefan Kemmerling (Kemmi.1) CC BY-SA 3.0 de