„Wir wollten abbilden, wie rechter Terror im Jahr 2020 vor Gericht verhandelt wird“ (S. 20). Mit diesem knappen Satz umschreiben die drei Autor:innen ihr Mammutprojekt, den Prozess gegen den Attentäter von Halle zu protokollieren. Dieser hatte an Jom Kippur 2019 versucht, in eine Synagoge in Halle einzudringen, um dort möglichst viele Menschen des gleichzeitig stattfindenden Gottesdienstes zu ermorden. Als ihm dies nicht gelang, erschoss er zwei Menschen im Umfeld der Synagoge und verletzte weitere.
Bisher ist es in deutschen Strafprozessen immer noch üblich, weder Tonaufnahmen zuzulassen, noch ein schriftliches Protokoll anzufertigen, das eingesehen werden kann. Damit sind der Ver- lauf von Strafprozessen, Zeug:innenaussagen und alles, was in ihrem Zusammenhang noch geschieht, für die Nachwelt für immer verloren. Dieser eklatante Mangel wurde nicht zuletzt beim NSU-Prozess deutlich, wo nur dank des Engagements weniger Aktivist:innen von NSU-Watch und einzelner Journalist:innen große Teile des Prozessgeschehens protokolliert und für ein interessiertes Publikum öffentlich gemacht wurden. Dafür war einiges an Nachdruck nötig, um etwa durchzusetzen, dass akkredi- tierte Journalistinnen Laptops mit in den Verhandlungssaal nehmen durften. Eigene Tonmitschnitte bleiben bis heute untersagt.
Diese Praxis setzte und setzt sich bei anderen Prozessen fort. So auch gegen den Attentäter von Halle. Dieses Verfahren fand an 26 Prozesstagen zwischen Juli und Dezember 2020 am Landgericht Magdeburg statt. Das große Novum war, dass erstmals seitens des Gerichts eine Tonaufnahme angefertigt wurde – diese aber für 30 Jahre unter Verschluss bleibt.
Wie beim NSU-Prozess ist es einer kleinen Initiative, diesmal dem „Zentrum Demokratischer Widerspruch“ aus Berlin, zu verdanken, dass der Prozess protokolliert wurde. Diese Mitschriften liegen nun in einer fast 900 Seiten starken Buchform vor. Herausgekommen ist ein akribisch aufgezeichnetes Wortprotokoll, so wie es sich durch nicht-Stenograf:innen anhand von eigenen Mitschriften rekonstruieren ließ. Geschrieben wird fast ausschließlich in indirekter Rede, nur weniges wird direkt zitiert. Auch die Aussagen des Täters werden so nahezu voll- ständig wiedergegeben. Dies ist im Einzelnen nur schwer auszuhalten, denn er nutzte den Prozess ausgiebig, um sein menschenverachtendes Weltbild kundzutun. Darauf weisen die Autorinnen selbst hin, betonen aber gleichzeitig, dass sie es für „unabdingbar [halten], die mörderische und hasserfüllte Ideologie des Angeklagten abzubilden, um sie für Wissenschaft und Zivilgesellschaft offenzulegen und für weitere Analysen zugänglich zu machen“ (S. 22). Sie heben aber auch hervor, dass sie an drei Punkten Details aus der Gerichtsverhandlung explizit nicht in ihren Bericht aufgenommen hätten. Dazu gehören alle Angaben zur Beschaffung und zum Bau von Waffen, Darlegungen zum Sicherheitskonzept der Synagoge sowie private Details aus dem Leben der Zeug:innen. Alles Informationen, die die Autorinnen, trotz ihres Anspruchs auf lückenlose Dokumentation nicht einem breiten Publikum zugänglich machen wollen. Die Tat selbst charakterisieren sie als antisemitisch, rassistisch und misogyn. Demnach waren die beiden Toten des Anschlags keine Zufallsopfer sondern starben, weil sie in der Ideologie des Täters zu einer Feindgruppe gehörten. Andere potentielle Opfer habe er deshalb bewusst verschont. Damit folgen die Autor:innen der Argumentation der zivilgesellschaftlichen Begleitung der Tat und der des Gerichts.
Das Buch ist übersichtlich nach den einzelnen Verhandlungstagen sortiert und gibt so die Chronologie des Prozesses wieder. Dank des umfangreichen Inhaltsverzeichnis, das die Inhalte des jeweiligen Verhandlungstages auflistet und eines Verzeichnisses aller Prozessbeteiligten, findet man sich trotz der hohen Seitenzahl sehr gut zurecht und kann problemlos einzelne Aussagen oder Prozessabschnitte nachlesen. Inwieweit die detaillierte Wiedergabe der menschenverachtenden Ideologie des Täters durch seine Aussagen für eine solche Dokumentation notwendig ist, mag strittig sein. In jedem Fall leistet das Buch aber einen unverzichtbaren Beitrag zur Aufarbeitung des Anschlags. (fe)
Nachtrag: Im aktuellen Koalitionsvertrag (Bund) findet sich auf Seite 106 das Vorhaben, in Zukunft Vernehmungen und Hauptverhandlung bei Strafprozessen in Bild und Ton aufzuzeichnen.
Linus Pook, Grischa Stanjek, Tuija Wigard (Hg.) • Der Halle-Prozess: Mitschriften • Spector Books, Leipzig 2021 • 886 Seiten • 28 Euro • ISBN: 978–3–9590–5501–7