VON WOLFGANG HORN
Freiheit, ein großes Wort, ein Sehnsuchtsbegriff, vieldeutig, aber nicht unbeschränkt. Freiheit ist, reisen und aufbrechen zu können, wohin man will, örtlich und im übertragenen Sinn. Freiheit ist, sagen, lesen und schreiben dürfen, was immer man will. Freiheit ist, leben zu dürfen, unbehelligt, ungestört, ungezwungen, wie man will. Freiheit ist, glauben zu dürfen, an was immer man will. Freiheit ist, lieben zu dürfen, wen man lieben will. Freiheit aber endet dort, wo die Freiheit anderer besteht. Freiheit ist ein individuelles Recht, das Achtung vor dem anderen und seiner Würde voraussetzt. So wird Freiheit zu einem gesellschaftlichem Recht, im Zusammenspiel von einzelnem und Gesellschaft. Es gibt keine Freiheit, die über Leichen geht. Das gilt immer und auch zu Zeiten der Pandemie. Sich in diesen Zeiten auf den Freiheitsbegriff zu berufen und so die freiwillige Impfverweigerung zu begründen, bedeutet auch, die Freiheitsrechte anderer einzuschränken, weil die Gefahr der lebensgefährlichen Erkrankung vieler Mitmenschen letztlich nur über die möglichst vollständige Impfung der Gesellschaft einzudämmen ist. Jene große Mehrheit der Gesellschaft, die mehr als zwei Drittel, die sich haben bereits impfen lassen, sind nicht staatsfrommer, obrigkeitshöriger, gehorsamer, mainstreamiger als die kleine Minderheit der freiwillig Ungeimpften. Und diese kleine Gruppe Ungeimpfter ist nicht mutiger, aufgeklärter, freiheitlicher, vernünftiger als jene, die sich im eigenen wie im wohlverstandenen Interesse der Gesellschaft an der Impfkampagne beteiligt haben. In der Logik derer, die in der Impfverweigerung einen Freiheitskampf erkennen wollen, müssten die Menschen in Spanien, Island, Frankreich, Dänemark, Italien, Norwegen, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden – um nur einige Länder zu nennen, die eine höhere Impfquote haben als Deutschland – sehr viel freiheitsfeindlicher sein als die Deutschen. Eine derartige Behauptung wäre so anmaßend wie idiotisch. Mir scheint im Gegenteil die hohe Impfquote dort überall darauf zu verweisen, daß die Vernunft ausgeprägter, das rationale Kalkül verbreiteter, die Auseinandersetzung mit dem Für und Wider der Coronabekämpfung weniger esoterisch, weniger rassistisch, weniger geifernd, weniger eifernd, weniger sektiererisch stattzufinden scheint und Impfgegner sich in erheblich geringerem Ausmaß zu Hilfstruppen von Rechtsextremen haben verdingen lassen. Es ist letztlich entweder dumme oder skrupellose Verachtung der Freiheit, wenn sie zum bloßen “ich will” degeneriert. Sich so in der Corona-Pandemie auf Freiheitsrechte zu berufen, tendiert zur Infamie. Wer sich impfen läßt, unterwirft sich nicht. Weder einer Regierung, noch einem deep-state, nicht auch Bill Gates oder irgendeinem Pharmaimperium. Es ist die Ausübung von Freiheit, geleitet von der Einsicht in die Notwendigkeit, individuell zum guten Gelingen des gesellschaftlichen Fortschritts beitragen zu können, zum medizinischen und zivilisatorischen Wohlergehen der Gemeinschaft. Impfverweigerer sagen und schreiben, manchmal brüllen sie „Freiheit“, meinen aber das „Recht“, “ihr Recht”. Selten ist in der Geschichte unseres Landes mit diesem großen, schönen, vieldeutigen Wort mehr Schindluder getrieben worden als derzeit.