Geräusche, Gerüche und Gedanken

VON YVONNE SCHWANKE


Heute morgen, als meine Ladentür hinter mir ins Schloss fiel, ploppte eine Erinnerung vor meinen Augen auf: Ich schaute als kleines Kind auf den Kassentresen meiner Tante Toni, aus deren ehemaligem Tante-Emma-Laden mittlerweile mein kleiner Massage Laden geworden ist.

Nun stand ich genau an der Stelle, an der ich auch damals gestanden hatte. Zu jener Zeit hing hinter der Kasse ein Regal, in dem Tante Toni die Grußkarten aufbewahrte: Osterkarten, Trauerkarten, Weihnachtskarten etc. Ich erinnerte mich an das beinahe magische Gefühl, das ich hatte, wenn ich den Kartenstapel, der für mich einen ganz besonderen Geruch hatte, anschauen und durchstöbern durfte. All diese Erinnerungen …freigeschaltet durch ein einziges Geräusch.

In all den Jahren, in denen sich so vieles geändert hat, änderte sich das Geräusch der zufallenden Ladentür niemals.

Und dieses Geräusch führte mich weiter zu all jenen, die verschwunden sind und die ich vermisse: Das Besengeräusch von Tante Ulla, die die Stufen der Gaststätte zur Buche so inbrünstig schrubbte, dass der Eindruck entstand, sie habe den Ehrgeiz, den braunen Stein weiß zu scheuern.
Durch die spezielle Akustik unserer Dorfkreuzung hörte es sich für mich jedes Mal so an, als würde sie direkt neben meinem Bett stehen und fegen und lachen.

Aber die Gaststätte ist schon lange geschlossen und Tante Ulla hat es mit den Knien.

Gaststätte “Zur Buche”

Ich vermisse die Geräusche der Feiernden im Saal der Buche, die Schritte angeschickerter Menschen, die, manchmal singend oder lachend, unsicheren Schrittes heimwärts wanken.

Ich vermisse den besonderen Saalgeruch: ein Potpourri aus altem Holz, dem alten Heizofen, schiefen Wänden, schweren Bühnenvorhängen und zahllosen durchtanzten und durchfeierten Nächten. Aber der Saal existiert nicht mehr. Auch hier ist alles, was geblieben ist, das Geräusch der alten Kneipentür.

Ich vermisse die Geräusche der Schreinerwerkstatt meines Vaters, die mich mehr als mein halbes Leben begleiteten. Das schneidige Rattern, Sirren und Jaulen der Sägen durch Holz, das Lachen und Rufen der Beschäftigten, die Stimme meiner Oma, die laut: „KAAARL WAAAALTER, TELEEEFON!!!“ über den Hof brüllt. Mein Vater, der laut :“RENATE!!“ ruft, obwohl Mama eigentlich Hiltrud heißt. Und ich vermisse den Geruch von Holzspänen, Lack und Farbe.

Die Geräusche, die heute aus der ehemaligen Werkstatt kommen, sind mittlerweile andere. Und auch die Gerüche sind nicht mehr dieselben.

Nichts bleibt, wie es ist. Leben bedeutet Veränderung.

Wenn ein Geräusch oder ein Geruch die Erinnerungen an vergangene, unwiederbringliche Tage wachruft, dann trägt sie oft Melancholie im Gepäck mit sich.

Diese romantische, sehnsüchtige Wehmut packt mich auch dann, wenn die Blätter bunt werden und die Tage kürzer und kälter. Dann vermisse ich die warmen, langen Sommertage, so, wie ich die Geräusche und die Stimmen verstorbener Personen vermisse.

Schon bald werde ich in der Luft den kommenden Schnee riechen. Wie immer wird es mir nicht gefallen, da ich weder die langanhaltende Dunkelheit der Wintertage, noch deren Kälte gut ertragen kann.

Allerdings werden auch diese Tage vorüber gehen. Nichts bleibt wie es ist.
Leben bedeutet Veränderung, ob es uns gefällt oder nicht.  

Meine Ladentür aber fällt seit 60 Jahren, wie ein rebellischer Anachronismus, auf die gleiche scheppernde, schwerfällige Art in ihre Fassung; ebenso wie die Kneipentür von gegenüber – und so schaffen sie es dann und wann, an Ereignisse und Menschen zu erinnern, die schon lange vergangen sind.

Würden beide Türen sprechen und Geschichten erzählen können, statt nur nostalgisch und charakteristisch zu knarzen, so würden sie vielleicht ähnliche Worte finden, wie Terry Pratchett: „Niemand ist endgültig tot, bis die Wellen, die er in der Welt geschlagen hat, verschwunden sind … Die Lebensspanne eines Menschen ist nur der Kern seiner tatsächlichen Existenz.“

Mit der Erinnerung verlängert man sowohl das eigene Leben, als auch die Existenz verstorbener Personen. Es ist gut, sich hin und wieder zu erinnern und unter leisem Lächeln das eine oder andere melancholische Tränchen zu vergießen – denn auch das geht vorbei.

All diese Gedanken – freigeschaltet durch ein einziges Geräusch. Kennt ihr das auch?

Willkommen, Herbst und Herbstmelancholie!
Ich werde mich an Euch gewöhnen. So wie jedes Jahr …

Kommentare (9) Schreibe einen Kommentar

    • Steffi
    • 30.09.21, 18:26 Uhr

    Wunderbar!!!! Je älter ich werde, umso mehr gefällt mir der Herbst. Seine überbordende Farbenpracht, die reifen Früchte, der Frühnebel, die Spinnenweben, die güldene Sonne…… Melancholie gehört dazu und irgendwann sind wir nicht mehr da – und das hat für mich auch etwas Tröstendes. ♡

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      • Yvonne Schwanke
      • 01.10.21, 7:45 Uhr

      Ich drück Dich, Du Elfenwesen.

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    • Linda M.
    • 30.09.21, 19:00 Uhr

    🥰 Oh ja!!! Wie wunderbar du das geschrieben hast! Ich kann es zu 💯 nachempfinden.

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      • Yvonne Schwanke
      • 01.10.21, 7:43 Uhr

      Das freut mich sehr!

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    • Rainer Groß-Hardt
    • 01.10.21, 11:02 Uhr

    Hallo Yvonne , habe hier gerne mitgelesen .Konnte mich da gut mit reinfühlen .
    Also ich vermisse auch den kleinen Laden von Herrn Mombrei aus
    der Heinhausstraße , das war immer spannend wenn ich Pepitohefte und Bazooka joe Kaugummi kaute 😉
    Deine andere Zeilen kommen mir aber auch bekannt vor …
    Mlg .Rainer

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    • Marie-Louise Lichtenberg
    • 01.10.21, 17:40 Uhr

    Toller literarischer Text, der zu Herzen geht. Vielen Dank, liebe Yvonne!

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      • Yvonne Schwanke
      • 03.10.21, 12:56 Uhr

      Danke schön!

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    • Dorte
    • 06.10.21, 3:24 Uhr

    Das hast du wunderschön beschrieben und auf den Punkt gebracht 🤗💖. Geräusche oder auch Gerüche (zb diesen unverkennbaren Saalgeruch -wie ich den vermisse!) bringen so viele Erinnerungen. Ich kann das so gut nachempfinden 😊. Erinnerungen und Gedanken – freigeschaltet durch ein einziges Geräusch oder einen bestimmten Duft, ja, das kenne ich sehr gut. Und ein wenig Melancholie schwingt da auch jedes Mal mit. Aber das ist dennoch schön. Ein Mensch ist erst dann wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt. Daher bin ich dankbar für jeden Duft oder jedes Geräusch, welches mir diese Menschen für einen kleinen Moment in der Erinnerung wiederbringt.

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      • Yvonne Schwanke
      • 06.10.21, 14:06 Uhr

      Fühl Dich von hier aus feste gedrückt!

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