„Bergische Transfergeschichten“: Familienleben verstehen, heißt menschliches Handeln zu verstehen

Der Wirtschaftswissenschaftler Christian Bredemeier forscht zur Familienökonomie

VON UWE BLASS

Wuppertal | Aufgaben gibt es in einer Familie zuhauf. Vom Saugen, Putzen, Kochen, Spülen, Einkaufen, über die Haustierfütterung, Gartenarbeit und Müllentsorgung bis zur Kindergeburtstagsplanung, dem Autowerkstattbesuch oder der zu veranlassenden Überweisung, stellt sich bei allem die Frage: „Wer macht‘s?“ Das perfekte Rezept dazu hat bisher noch keiner erfunden, aber die bisherigen dahingehenden Forschungen und Erkenntnisse der Familienökonomie können auch auf andere Bereiche erfolgreich angewandt werden. An der Bergischen Universität forscht Christian Bredemeier an seinem Lehrstuhl für Applied Economics in diesem Bereich. „Familienökonomie heißt, Familienleben zu verstehen und dabei Denkweisen und Konzepte zu verwenden, die uns auch in anderen Bereichen außerhalb der Familie helfen, wirtschaftliches Handeln von Menschen zu verstehen.“

Familie als Gruppe von Individuen, die miteinander interagieren

„Die Familie ist eine Gruppe von Individuen, die miteinander interagieren, ihre eigenen Interessen, Vorlieben und Abneigungen sowie Möglichkeiten und Grenzen haben“, erklärt der Ökonom, „und manchmal dadurch auch in Konflikte geraten.“ In der Familienökonomie gehe es oft um ganz konkrete Lebensentscheidungen wie Arbeitsplatzwechsel, Umzüge, oder das Thema Kinder in Verbindung mit möglichen Karriereunterbrechungen. „Es geht auch um die Bildung von Familien, von Haushalten. Das Zusammenkommen in der Partnerschaft, das Zusammenziehen und die eventuelle Heirat sowie auch die Auflösung von Familien, also Trennung und Scheidung.“ Die ökonomischen Konzepte, die dabei benutzt werden, werden in anderen Bereichen bereits erfolgreich eingesetzt. Eine klug entwickelte Arbeitsteilung beispielsweise sei bei vielen Unternehmen der Schlüssel zum Erfolg.

Familie: eine Gruppe von Individuen

„Es ist immer wieder faszinierend, wieviel sich verstehen lässt“, führt der 39-jährige aus, „wenn man ganz nüchtern ökonomische Rahmenbedingungen betrachtet, denen Familien und ihre einzelnen Mitglieder ausgesetzt sind, auch ohne auf schwer zu messende und quantifizierende Faktoren zurückzugreifen.“ 

Normen und Rollenbilder seien aber ebenso von großem Belang, konstatiert der Wissenschaftler. Wenn man die Rolle der Familie für ganz ökonomische Fragestellungen verstehe, könne man auch staatliche Systeme vernünftig gestalten und würde das, was in der Familie geschehe, sinnvoll ergänzen. „Ein Beispiel ist die Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme“, sagt Bredemeier, „denn da spielen Familien eine Rolle und bilden das erste Auffangnetz für Menschen.“ Auch für die Gestaltung des Steuer- und Transfersystems und des Arbeitsrechts sei es wichtig zu verstehen, wie familiäre Prozesse funktionieren.

Die Familienkonstellationen haben sich geändert. Die Eheschließung ist keine notwendige Grundlage mehr, aus Trennungen entstehen neue Stief- oder Patchworkfamilien, neue Wohn- und Hausgemeinschaften, sogar zusammen mit älteren Mitgliedern der Großelterngeneration. Alleinerziehende sind Standard. Dazu Bredemeier: „Mit jeder neuen Familienform ergibt sich die Herausforderung, zu verstehen, warum sie sich bildet und was das für die Menschen bedeutet, die in ihr leben.“ In einer sich verändernden Familienwelt führe A nicht mehr zwangsläufig zu B, wie es die klassische Familiensituation vorgebe. „Wir sind nicht starr auf das klassische Vater-Mutter-Kinder-Bild angepasst. Wir verstehen Familie als eine Gruppe von Individuen, die nicht auf eine Form der Familie festgelegt sind.“

In weniger Kinder mehr investieren?

Viele Deutsche bekommen oft weniger Kinder, in die sie aber mehr investieren, ihre Zukunft scheinbar perfekter planen. „Es gibt eine ganze Menge Studien, die klar darauf hinweisen, dass Investitionen der Eltern eine große Rolle spielen für das spätere Leben“, sagt Bredemeier, hebt aber gleichzeitig auch hervor, dass das eigene Wesen sowie die Persönlichkeit der Eltern, unabhängig von der potentiellen Förderung, eine wichtige Rolle spiele. Interessant sei, wie viele Disziplinen sich mit diesem Phänomen beschäftigten. „Für uns Familienökonomen ist es ziemlich klar, dass es aus gesamtgesellschaftlicher Sicht auch ein Zuviel an elterlichen Investitionen geben kann“, wenn es z.B. zu einer Art Wettbewerb zwischen den Eltern komme, um das eigene Kind in eine bessere Startposition zu bringen. Der Wettbewerb um begehrte Plätze an renommierten Universitäten sei da ein gutes Beispiel. 

„Dann entsteht ein ganz klassisches ökonomisches Problem, dass wir außerhalb der Familie schon sehr lange verstanden haben, nämlich eine Situation in der das, was für mich gut ist, schlecht für andere ist.“ Außerdem übe das enormen Druck auf die Kinder aus, die die in sie gesetzten Erwartungen auch erfüllen können müssten. „Wenn man Einkindfamilien einmal für zwei Generationen durchspielt, haben vier Großeltern nur ein Enkelkind. Und da schauen viele Erwachsene auf das eine Kind. Damit muss es erst mal zurechtkommen.“ Weniger Kinder einer Gesellschaft haben natürlich auch Einfluss auf das Rentengeschehen in einem Land, doch Bredemeier gibt zu bedenken, dass sich das Kinderkriegen altersmäßig verschoben habe. „Frauen, die man aufgrund ihres Alters bereits nicht mehr in den Statistiken erfasst hatte, haben dann aber noch Kinder in einem Alter bekommen, in denen vorherige Generationen das nicht mehr getan haben. Da hat es in der Wahrnehmung einen gewissen Verzug gegeben, doch die Geburtenrate steigt wieder ganz allmählich.“

Wer übernimmt den Löwenanteil der Hausarbeit?

Dass beide Eltern mit etwa gleicher Stundenzahl arbeiten gehen und sich gemeinsam um Haushalt und Kinder kümmern, ist eine Wunschvorstellung vieler Paare, die Nachwuchs planen. Doch meist bleibt auch heute noch die Frau nach der Schwangerschaft zu Hause und hat größere Schwierigkeiten, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Den Löwenanteil der Hausarbeit übernehmen nach wie vor die Frauen. Das erweckt oft den Eindruck, als ob Geschlechtergleichheit nur im Kopf stattfindet. „Ich denke, der Wunsch nach fairer Aufteilung der Aufgaben hält da vermutlich den Konfrontationen mit den Herausforderungen nach der Geburt der Kinder nicht immer Stand“, erklärt der Ökonom. 

Auf der anderen Seite „gab es in den letzten Jahren auch sehr gute Studien, die nachweisen, dass es immer noch Geschlechterbilder, Stereotype und Rollenbilder gibt und dass Familien viel auf sich nehmen, um diesen Rollenbildern, die sie selbst oder andere von ihnen haben, zu entsprechen“, weiß Bredemeier.

Die Auswirkungen rückläufiger Eheschließungen auf familienökonomische Prozesse

„Eine Eheschließung macht das Zusammenleben aus ökonomischer Sicht verbindlicher und auch das Beenden schwerer“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler, und das habe eine Reihe von Auswirkungen für das Zusammenleben als Paar, vor allem, wenn es um langfristige Investitionen gehe. „Lohnt es sich z.B. ein Haus zu kaufen, wenn der Partner jederzeit gehen könnte? Lohnt es sich, für die Familie auf die Karriere zu verzichten, wenn man am Ende vielleicht allein dasteht? Ist man bereit, dem Partner, dessen Karriere gerade stockt, oder der gerade seinen Arbeitsplatz verloren hat, auszuhalten, wenn man nicht sicher ist, dass der Partner in der umgekehrten Situation einen selber vielleicht verlässt? Das sind alles Fragen, die sich in der Entscheidungssituation des Einzelnen in der Beziehung stellen können.“ 

Es gebe viele empirische Daten zu den Auswirkungen der einseitigen Scheidung und die in den westlichen Ländern geänderte Rechtslage habe Einfluss sowohl auf die Erwerbstätigkeit von Frauen, das Ausmaß an häuslicher Gewalt, als auch auf Kinderentwicklung und das Sparverhalten. „Die Entscheidung Trauschein ja oder nein hat eine ähnliche Dimension.“

Gleich und gleich gesellt sich gern…

Menschen suchen sich heute oft Partner mit ähnlicher Bildung und ähnlichem sozialem Hintergrund. Die Wissenschaft spricht von assortativer Paarbildung. Dieser Trend wird mit dafür verantwortlich gemacht, dass die wirtschaftliche Ungleichheit von Haushalten innerhalb vieler Länder wächst. „Dass mit der assortativen Paarbildung ist richtig“, bestätigt Bredemeier. „Es kommen Leute zusammen, die sich ähnlich sind. Wir sehen, dass vor allem Bildungsstand und Einkommen mehr und mehr eine Rolle spielen. Wenn ein gutverdienender Mensch auch noch einen gutverdienenden Partner dazubekommt, verstärkt das natürlich den Unterschied im Einkommen, verglichen mit Leuten, die einen geringeren Bildungsstand haben und weniger verdienen. Es macht den Unterschied zwischen den Haushalten größer.“ Die Frage nach Ungleichheit werde in der Ökonomie schon sehr lange diskutiert. 

Grundsätzlich gebe es verschiedene Politikmaßnahmen, die dafür sorgen sollen, dass Menschen ohne hohen Bildungsabschluss ein auskömmliches Einkommen hätten. Man könne etwa Vorteile für Geringverdiener im Steuer- und Sozialsystem ausbauen, erklärt der Fachmann, aber dazu müsse auch der politische Wille da sein.

Neue, familienökonomische Konzepte für eine veränderte Gesellschaft

Die sozialen Normen haben sich verändert. Gleichgeschlechtliche Beziehungen, außerehelicher Sex und auch verheiratete Frauen am Arbeitsplatz sind heute gesellschaftlich anerkannt. Dafür mussten auch neue Konzepte in der Familienökonomie her. „Sex ist wahrscheinlich nur die Spitze dessen, was mal irgendwann für die Ehe reserviert war, heute aber auch selbstverständlich außerhalb der Ehe existiert“, sagt Bredemeier, auch banale Dinge hätten eine ähnliche Vergangenheit. „Bestimmte Tätigkeiten in der Hausarbeit mussten früher einfach von Familienmitgliedern gemacht werden. Heute können wir das selbstverständlich an Dienstleister oder an Maschinen abtreten. Diese Prozesse haben wir ganz gut verstanden.“ 

Eines der Kernthemen der Familienökonomik sei die Beteiligung von Frauen am Arbeitsleben, die wir heute als normal empfinden. Als ´New normal` beschreibt der Forscher das Zeitalter der Doppelverdienerfamilien, das auch zu neuen Schlussfolgerungen führt. Ebenso seien gleichgeschlechtliche Beziehungen ein spannendes Feld für die Wissenschaft. „Solche Beziehungen ermöglichen uns Rollenverteilungen in Situationen zu studieren und zu beobachten, wo Geschlecht im biologischen Sinne keine Rolle spielt. Viele Kolleg_innen sind schon gespannt, denn wenn es die Ehe für alle einige Jahre gegeben hat und wir eine ausreichende Datenlage haben, werden uns diese Daten helfen, familiäre Prozesse noch besser zu verstehen.“

Prof. Dr. Christian Bredemeier
leitet seit 2019 den Lehrstuhl für Applied Economics an der der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Bergischen Universität Wuppertal, der Schumpeter School of Business and Economics.

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