Über Verantwortung in pandemischen Zeiten

VON WOLFGANG HORN

Anders als Coronaleugner oder Demokratieverächter bin ich, cum grano salis, ein Jahr lang gut regiert und behandelt worden. Von einer Regierung, die ich in dieser Zusammensetzung nicht gewollt und deren größeren Partner ich bislang noch nicht gewählt habe. Vieles hat nicht funktioniert im Land, die Politiker sind wie die Bürger auch vom Coronavirus überrannt und überrascht worden. Zudem rächte sich sofort, daß das Gesundheitswesen viele Jahrzehnte lang einen neoliberalen Kurswechsel durchmachte hin zur privatwirtschaftlich organisierten Profitquelle für Anteilseigner und die Globalisierung die Produktion von Medikamenten, Schutzkleidung, medizinischen Masken und Geräten in jene Ecken der Welt verlagert hatte, in denen der geringen Lohnkosten wegen und womöglich auch geringerer Arbeitsschutzvorschriften wegen kostengünstiger produziert werden konnte als im guten alten Europa. Fatal, das alles. Aber: Es ging so eben noch einmal gut. Man hat das Erforderlichen beschaffen und teils gar eine entsprechende Produktion in Europa oder in Deutschland organisieren können. Ein Ergebnis war, daß die erste Welle der Pandemie in kurzer Zeit gut beherrscht werden konnte. Danach aber, als es ruhiger um das Virus war und die Strände in Europa überfüllt, da wurde doch so einiges versäumt. Es gab und gibt keine digitale Strategie für Schule und Unterricht und keine sozialen Maßnahmen, um Distanzunterricht auch dort möglich zu machen, wo die Wohnungen klein sind und ohne Balkon und die Eltern nicht imstande, den Kindern in ihren Nöten beizustehen. Es gibt keine für alle Zwecke geeignete digitale Lösung einer App, die das Infektionsrisiko darlegt, mit der man sich zugleich in Geschäfte, Konzerte, öffentlichen Nahverkehr und dergleichen einloggen kann und die überdies auch eine Tagebuchfunktion enthält und eine Information der Gesundheitsämter möglich macht. Und schließlich: Die entscheidenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, Impfungen und Selbsttests, sind zu dieser Zeit ebenfalls nicht angegangen worden, sondern erst später, als etwa zu Weihnachten die Infektionszahlen in ungeahnte Höhe schnellten. Bei den Impfungen hat der Bund versagt, weil nicht ausreichend Vakzine zu Verfügung stehen, haben die Länder versagt, weil Impfzentren weitab vom Schuß errichtet wurden und Impftermine weder telefonisch noch online zu vereinbaren waren. Die Hausärzte sollen erst später hinzugezogen werden. Schnelltests sind nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Warum nicht? Das war doch alles monatelang abzusehen. Mittlerweile befinden wir uns bereits im Superwahljahr mit einem Superwahlkampf. Da können die Landesfürstinnen nicht mehr vor allem auf die Expertenstimmen hören, sondern müssen auch das übellaunige Raunen verstimmter Interessengruppen bedienen, der Hotelwirtschaft, der Gastronomie, des Fremdenverkehrs, was auch immer. Solange aber nicht in ausreichendem Maße geimpft werden kann und solange wegen der fehlenden Testmöglichkeiten öffentliche Veranstaltungen nicht wirklich zugänglich werden, solange bleiben nur die bereits erprobten Methoden: rigorose Kontaktbeschränkungen, Hygieneregeln, Abstandsgebote, Mundschutz auch in der Öffentlichkeit sowie regelmäßiges Lüften der Innenräume. Solange muß man auch über die Sinnhaftigkeit regelmäßigen Schulbesuchs nachdenken und nicht forsch anordnen, was schon immer so gehandhabt worden ist. Also, keine Reisen, Beschränkungen beim Besuch von Läden aller Art, Eindämmung von Verkehr, Ruhepausen des öffentlichen Lebens. Immer und immer wieder. Gegen jeden Mulm, gegen jede Idiotie der Freiheitsberaubung, gegen jede völkisch-nationalistische Pandemieleugnung und Verdummung. Das war auch intendiert mit der sogenannten Osterruhe. Das öffentliche Leben sollte zur Ruhe kommen, die ansonsten üblichen Reisen zu Familientreffen ausbleiben und die großen Kämpfe um die besten Angebote in den Kommerztempeln sollten unterbunden werden. Aus rechtlichen Gründen aber, wie sich heute herausstellte, war es nicht möglich, so kurzfristig zwei weitere Feiertage festzulegen, Gründonnerstag und Karsamstag. Das wurde nun kurzfristig gecancelt und die Bundeskanzlerin übernahm öffentlich die Verantwortung qua Amt. Endlich. Die meistgescholtene Politikerin dieser Tage übernimmt die Verantwortung für einen Beschluss, der sich als nicht durchführbar herausgestellt hat. Da ist sie wieder, die längst verloren geglaubte politische Kultur. Die man sich gewünscht hätte nach den ersten Torheiten bundesdeutscher Verkehrsminister. Oder nach eklatantem Versagen im Gesundheitsministerium. Oder im Landesschulminsterium. Es gäbe noch viele Ämter und Behörden, denen das genaue Studium der öffentlichen Ansprache der Kanzlerin gut zu Gesicht stünde. Ich bin, um den Anfang des Kommentars wieder aufzunehmen, cum grano salis, ein Jahr lang gut regiert und behandelt worden. Ich werde aber, mit ebenso grobem Korn, zusehends schlechter regiert. Weil bella figura im Wahljahr wichtiger wird als der Rat der Experten zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Es geht in pandemischen Zeiten nicht um Stimmenanteile. Es geht um die Verhinderung des Sterbens und die Eindämmung einer schrecklichen Krankheit. Immer noch. Sehr lange noch.

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