Bürgerliches Getöse?

VON WOLFGANG HORN

Bürgerlich. Das ist einerseits gesellschaftliche Verortung. In der Mitte der Gesellschaft. Das Gemeinwohl achtend. Die Institutionen der demokratischen Gesellschaft schützend und bewahrend. In diesem Sinne auch konservativ. Bürgerlich ist andererseits nicht mehr soziale Verortung. Nicht nur, wer zum Besitzbürgertum gehört, hat Anspruch darauf, den Bürgerlichen zuzugehören. Bürgerlich bezeichnet auch kulturell gebildete Menschen, emphatische und hilfsbereite Mit-Bürger, die aus religiösen, sozialen oder anderen humanitären Gründen Schwachen beistehen, Notleidenden helfen, Verfolgte schützen, Mächtigen Einhalt gebieten und sich für Ohnmächtige einsetzen und solche, deren Stimme nicht gehört wird. Und bürgerlich schließlich beschreibt neben Haltungen auch Verhaltensweisen, Umgangsformen, öffentliche Präsentation. Zurückhaltendes Auftreten, angemessene Wortwahl und Sprache, respektabler Umgang, eine gewisse Nachdenklichkeit kennzeichnen das Bürgerliche in der modernen Gesellschaft. Lautstärke, Getöse, Geschrei, Häme, Beleidigungen, Unfairness – all das gehört nicht zum Kanon des Bürgerlichen. Selbst bei passender Herkunft.

Der offene Brief, den vier Fraktionen des Stadtrats, die sich selbst als „bürgerlich“ bezeichnen, jetzt an den Bürgermeister gerichtet, in Wirklichkeit aber in die Öffentlichkeit der Stadt posaunt haben, nachdrücklich, mit Getöse, Aplomb, ist eigentlich kein Brief für die Öffentlichkeit. Die Zielrichtung ist die Verwaltung der Stadt und der Chef der Verwaltung, der Bürgermeister. Es ist eben Wahlkampf. Die Kritik an vermeintlich unangemessenem Umgang von Behördenmitarbeitern mit gastronomischen Betrieben in der Stadt im Kontext der Coronaregeln hätte, wäre es nach bürgerlichen Verhaltensregeln gegangen, zunächst intern, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung und den Verantwortlichen formuliert werden müssen. Stattdessen wurde die Wahlkampfkanone entstaubt, Getöse veranstaltet, lärmend die Verwaltung attackiert, um den Bürgermeister zu treffen. Alles leichtfertig, nicht nachdenklich, nicht angemessen. Nicht einmal ein billiger Punktsieg für die vier Fraktionen springt aus der überstürzten und nicht durchdachten Aktivität der öffentlichen Anklage heraus, wird doch sogar schamhaft verschwiegen, daß alle Verantwortlichen für diesen Vorgang im politischen Umfeld der vier schreibenden Fraktionen heimisch sind. Nichts an diesem Vorgehen verdient das Prädikat „bürgerlich“. Ein Pyrrhus-Sieg, allenfalls.

Erkennbar mangelt es dem Initiator und dem/den Autoren des Briefes an Feinschliff und Fingerspitzengefühl. Mit den sattsam bekannten politischen Haudraufmethoden sind aber die Verhältnisse nicht zu ändern. Aber: Hier sollte ja auch nichts korrigiert oder abgestellt werden. Dann hätten die Urheber auch das Gespräch mit den anderen Fraktionen gesucht, namentlich den Grünen und Sozialdemokraten. Vielleicht hat sich die Mehrheit der unterzeichnenden Parteien einfach der Abteilung Attacke der übrigen Partei gebeugt, ohne wirklich genaue Kenntnis von Absichten, Vorgesprächen und Formulierungen. Aber auch das wäre keineswegs bürgerlich. Allenfalls bräsig-nachlässig.

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