Die Rede von Stefan Jasper beim Kottenbutteressen des Heimatbundes Lüttringhausen am vergangenen Samstag entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Waterbölles, dem kommunalpolitischen Forum für Remscheid:
Man wagt wohl nicht zu viel, wenn man, zurückblickend auf die Jahre 2018 und 2019, behauptet, der Klimawandel sei vom Rand ins Zentrum vieler öffentlicher Debatten gerückt. Und deutlich wird auch, dass eine umsichtige Auseinandersetzung mit einer anderen vieldiskutierten Frage, nämlich, was tun angesichts Tausender und Abertausender Menschen, die ihre Heimat fluchtartig verlassen, die Entwicklung des Klimas mit bedenken muss. Die heißen Sommer haben es uns gewissermaßen auf die Haut gebrannt, was Erderwärmung bedeutet. Die Gletscherschmelze galoppiert, der Teich im Lüttringhauser Stadtwald ist trockengefallen, die Bäume verdursten. Am Freitag, 20. September 2019, ist die Schülerschaft des Leibniz-Gymnasiums, begleitet von Lehrerinnen und Lehrern, zum Adolf-Clarenbach-Denkmal gezogen, um klarzustellen, dass sie hinter den politischen Zielen der Fridays-for-Future-Bewegung steht. Zielen, zu denen bekanntlich gehört, dem klimafeindlichen Verfeuern fossiler Bodenschätze ein Ende zu bereiten.
Ein wichtiger Schauplatz des intendierten Übergangs ins postfossile Zeitalter wird und muss auf städtischen Straßen liegen. Und ein beträchtlicher Beitrag zum Gelingen dieses Übergangs kann entstehen, sofern die Mobilitätsbedürfnisse und ihre Befriedigung vorrangig unter dem Blickwinkel der Stadt- und der Klimaverträglichkeit betrachtet und behandelt werden. Als Tendenz ist erkennbar, dass sowohl Bussen und Bahnen als auch Fahrrädern und Füßen eine weitaus größere Rolle zugedacht wird.
Sobald man beginnt, den Stadtverkehr dementsprechend neu zu organisieren, taucht allerdings ein Thema auf, das bei allen Erörterungen von klimaneutralen Autoantriebsarten außen vor bleibt. Es ist das Thema des Platzes. Platz, den busbeschleunigende Sonderspuren, breite Bürgersteige und bequeme Radwege benötigen; Platz, der in Ballungszentren besonders knapp ist; Platz, der bisher – unter der Maßgabe, der Städtebau solle vor allem den Autos gerecht werden – großzügig dem Autofahren und dem Autoparken zugestanden wurde.
Ein Verzicht auf innerstädtische Autofahrten, den das Mobilitätskonzept der Stadt Remscheid erklärtermaßen anstrebt und der durch planerische Prioritätenverschiebung zu begleiten wäre, hätte zur Folge, dass die Kinder zunehmend weniger verzichten müssten auf den Spiel- und Bewegungsraum Straße. Das wiederum könnte der Anfang vom Ende des Elterntaxiwesens sein, bei dem das Gewicht der gelösten Probleme das der dadurch neu geschaffenen vermutlich nicht übersteigt.
Angenommen, die Einschätzung des Architekten Holger Pump-Uhlmann, Mitautor des Solinger City-Konzepts 2030, trifft zu, dass die Stadtbewohner, wenn sie vor die Haustüre treten, im Grunde genommen nicht auf Unmengen herumstehender oder -rollender Pkw schauen wollen, dann wäre eine kontinuierliche Reduzierung des Autoverkehrs außerdem gewinnbringend für das optische Empfinden. Lässt sich gleichzeitig eine kontinuierliche Zunahme guter und gut verknüpfter Radwege beobachten, denn tritt ein bemerkenswerter sozialer Effekt ein, denn Radinfrastruktur ist Bedingung für ein vergleichsweise preiswertes Mobilsein.
Mindestens zwei gute Radwege hat Remscheid: die Werkzeug- und die Balkantrasse. Sie sind aber Fragmente, das heißt: Gut verknüpft sind sie weder miteinander noch mit entfernteren Stadtteilen.
Seitdem bekannt ist, wie angenehm es sich auf der Balkantrasse radeln lässt, plädiert der Heimatbund dafür, sie bis nach Lüttringhausen zu verlängern. Basis sollte die Fläche des sogenannten „Dritten Gleises“ sein, eines ehemaligen Gütergleises, das beginnend am Lenneper Bahnhof, parallel zur S-Bahn-Strecke in Richtung Blume verlief. Es würde hier zu lange aufhalten, die ersten Bemühungen um den Anschluss chronologisch nachzuzeichnen. Entscheidend ist, dass sie Eingang fanden in das Radverkehrskonzept, das das Dortmunder Büro „Planersocietät“ für die Stadt Remscheid erstellt und das der Rat im Herbst als Grundlage künftiger Maßnahmen akzeptiert hat. Ja, da kann man sich als Lüttringhauser nicht beklagen: Das Thema „Balkantrassenverlängerung“ fand nicht nur Eingang, ihm wurde sogar ein eigenes Kapitel gewidmet, das, wie ich finde, mit einem fulminanten Vorschlag aufwartet. Dazu später mehr.
Die Dortmunder Planer ziehen zwei Anbindungsvarianten in Betracht. Die erste heißt offiziell „Achse 4“ – ich würde sie gerne die „Magervariante“ nennen. Zum einen, weil sie, was ihre Breite betrifft, wirklich sehr schmal ausfällt; zum anderen, weil sie in Bezug auf Sicherheit, Verlärmung und Abgasbelastung sowie Wartezeiten an Verkehrsknoten alles andere als einen üppigen Komfort bietet.
Das rührt daher, dass sie den Mollplatz mit dem Eisernstein über die Lüttringhauser Straße und die Lindenallee verbindet: Dort fehlt fast überall der Platz, um für die Radelnden mehr zu tun, als in jeder Richtung einen Schutzstreifen zu markieren. Diese Maßnahme beinhaltet das Aufmalen einer Trennlinie auf die vorhandene Fahrbahn, kombiniert mit dem Anbringen von Fahrradpiktogrammen. Abgetrennt werden in der Regel anderthalb Meter, ohne dass daraus verkehrsrechtlich für die Radfahrer die Pflicht und für die Autofahrer das Verbot erwächst, den Streifen zu nutzen.
Vertieft man sich in die Abschnittsbeschreibungen, die für die Magervariante gegeben werden, so vermittelt sich das Gefühl der Ohnmacht, auf bestehenden Straßen große Verbesserungen für den Radverkehr zu erreichen. Radikale Flächenumverteilungen wären hilfreich, sind aber derzeit wegen der dadurch gesteigerten Infarktgefahr für den Autoverkehr nicht ratsam. So erhält sich das Bild des an den Rand gedrängten Radlers – nun zwar geschützt, aber schwach. Ist das ein hinreichend kräftiger Anreiz für die Lüttringhauser Bevölkerung, eine Fahrt nach Lennep mit dem Rad statt mit dem Auto zu unternehmen? Und was soll werden, wenn eines Tages Lastenräder auftauchen?
Ein wesentlich verlockenderes Bild lässt der Blick auf die zweite Variante entstehen, der die Planer selbst den Titel „Vorzugstrasse“ geben. Ihn verdient sie sich vor allem deshalb, weil sie konsequent die Qualitätsstandards beibehält, die die Stadt bei der Herrichtung der Balkantrasse angewandt hat. Eine Konsequenz, die der Begriff der Verlängerung nahelegt, denn von Verlängerung zu sprechen würde mindestens problematisch, wenn die gewohnten Ausbaustandards am Beginn der Fortführung schlagartig absackten. Wenn eine Autobahn abrupt in einen engen, kurvigen Feldweg überginge, käme wohl kaum jemand auf die Idee, diesen als „verlängerte Autobahn“ zu deklarieren. Eine Autobahnverlängerung geschieht üblicherweise durch einen Autobahnbau.
Zwei der beibehaltenen Qualitätsstandards seien exemplarisch beleuchtet. Der vielleicht wichtigste zuerst. Er ist ablesbar am Merkmal „Kreuzungsarmut“, welche erreicht wird durch den projektierten Verlauf der Vorzugstrasse: Die Verknüpfung mit der Balkantrasse erfolgt im Zusammenhang mit der Erneuerung der Bahnbrücke im Bereich der Alten Kölner Straße, weiter geht es auf der Westseite der S-Bahn-Strecke, dem Planum des bereits erwähnten Dritten Gleises folgend wird die Blume erreicht; doch statt wie dieses dort zu enden, bleibt die Vorzugstrasse der S-Bahn-Strecke treu und begleitet sie – nach einem Wechsel auf die Ostseite in Garschagen – bis zur Beyenburger Straße. Ermöglicht wird die naturgemäß auch neigungsarme Linienführung durch das, was man getrost das Herzstück oder den Clou des Entwurfs nennen kann: Genauso wie heute schon die S-Bahn-Gleise wird der Radweg nämlich unter der Lüttringhauser Straße hergeleitet
Obwohl die Vorzugstrasse passagenweise ruhige Nebenstraßen wie Karl- und Ritterstraße einbindet, handelt es sich doch zum überwiegenden Teil um einen Neubau. Ergebnisse von technischen Prüfungen und von Grunderwerbsverhandlungen stehen noch aus und können zu partiellen Verlagerungen führen – weshalb ich auf eine detaillierte Darstellung einzelner Abschnitte verzichte.
Stattdessen tippe ich ein zweites unübersehbares Qualitätsmerkmal der Vorzugstrasse an. Es ist ihre Breite. So schmal wie ein Schutzstreifen ist sie nirgends, sondern fast überall mindestens doppelt so breit, also drei und mehr Meter. Diese Dimensionierung erlaubt es, neben dem Radfahr- einen Fußgängerbereich auszuweisen, was als attraktives Angebot für eine andere klimafreundlichere, emissions- und feinstaubfreie Fortbewegungsart zu werten ist.
Die Remscheider haben seit langem bewiesen, dass sie Qualitätswerkzeuge herstellen können; die Stadtverwaltung beweist, dass sie für qualitativ hochwertige Kinderbetreuung zu sorgen vermag. Und nun ergibt sich die Chance, unter Beweis zu stellen, dass Remscheid auch einen vier Kilometer langen Qualitätsradweg hinbekommt. Deshalb der klare Appell des Heimatbundes an die Entscheider und Entscheiderinnen in Politik und Veraltung: Setzen Sie sich dafür ein, dass eine Verlängerung der Balkantrasse entsteht, die den Titel „Verlängerung“ zu Recht trägt! Geben Sie der Vorzugstrasse den Vorzug!
Würde ihre Realisierung gelingen, so könnte man aus Radfahrperspektive ebenfalls ausrufen: „Stolz auf Remscheid“ und hinzufügen: Der „Aufbruch Radverkehr“ macht offenbar keinen Bogen um unsere Stadt.
„Aufbruch Radverkehr“ liefert das Stichwort für meine Schlussbemerkung. Die Volksinitiative gleichen Namens hat ja bewirkt, dass sich der Düsseldorfer Landtag parteiübergreifend für die Erarbeitung eines Fahrradgesetzes ausgesprochen hat. Sollte es zügig verabschiedet werden, dann könnten davon rechtzeitig Impulse ausgehen für die Verbreitung der Finanzierungsförderung „Radwegebau“. Die Folge: Ein schreckhaftes Zurückzucken beim Blick auf die Kosten der Vorzugstrasse ist fortan in Remscheid nicht mehr wahrnehmbar. (Rede von Stefan Jasper beim Kottenbutteressen des Heimatbundes Lüttringhausen am vergangenen Samstag)
Beitragsfoto: Stephan Jasper © Lothar Kaiser