Den nachfolgenden Beitrag von Martin Bühner entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Newsletter humanistisch.net:
VON MARTIN BÜHNER
Vorschläge, wie es gelingen kann, den Alltagsstress abzustreifen, gibt es zur Genüge. Dass es ganz einfach sein kann und nur ein wenig Konsequenz braucht, will ein neues Projekt in Berlin zeigen, die so genannte „ÉCOLEFLÂNEURS“.
Wenn Gründer Thomas Schütt durch die Stadt läuft, versucht er, dem hektischen Treiben durch langsames, aber stetes Gehen zu entgehen. Gleichzeitig erkundet er seine Umwelt mit anderen Augen und aus anderen Blickwinkeln. Gemeinsam mit Elke Schmid, Regisseurin und Trainerin für gutes Gehen, hat er in Berlin die erste deutsche Flanierschule gegründet. Der moderne Mensch habe die Kunst des Flanierens verlernt, weil es ihm vor allem darum gehe, möglichst effizient von A nach B zu kommen. Zudem würden die meisten beim Gehen aufs Handy starren und die Umgebung kaum noch wahrnehmen.
Neugier statt Maps – Gemächlichkeit als Zauberformel
Wie ein Kaleidoskop könne die Entschleunigung die scheinbar vertraute, alltägliche Umgebung zu einem neuen Bild mit unerwarteten Überraschungen zusammensetzen.
Neue Schüler*innen nennen Schütt und Schmid sehr unterschiedliche Gründe, warum sie mit der Flanierschule neu gehen lernen wollen, zumeist, um ihre Umgebung oder ihr Viertel besser kennenzulernen. Andererseits geht es aber beim Flanieren vor allem ums gedankliche Loslassen und ums sich Gehenlassen, gleichzeitig wird ein gesünderer Gang im Alltag gefördert, man habe weniger Verspannungen. Bei guter Körperhaltung könne sich auch der Stoffwechsel verbessern, zudem könnten die Knochen und sogar das Immunsystem profitieren.
Es waren Dandys wie Rimbaud oder Baudelaire, die das Flanieren Ende des 19. Jahrhunderts sozusagen zum Lifestyle stilisiert haben. Denn beim Flanieren verändert sich die Wahrnehmung.
Aufkleber, Klangfetzen, Schriften an Häuserfassaden oder Graffiti seien der ideale Einstieg in diesen Gedankentunnel. Laut Schütt entstehe so ein eigener Gedankenmonolog, eine Art innerer Film. Man schwingt sich assoziativ vom einen Input bzw. Gedanken zum nächsten, ohne vorher zu wissen, wo man am Schluss landet. Und bei der Flanier-Tour wird übrigens kein Wort gesprochen, sondern jeder soll möglichst bei sich und der Umgebung bleiben.
Langsamkeit ist nicht gleich Trägheit!
Schütt und Schmid haben festgestellt, dass Leute, die sich auf diese Erfahrung einlassen, oft überrascht sind, was ihnen plötzlich alles auffällt. Ab und zu unterstellen Teilnehmer ihnen sogar, bestimmte Szenen inszeniert zu haben, was aber nicht der Fall sei. Dabei hat jede Stadt ihre eigenen, interessanten Eindrücke zu bieten: Gerüche, Klänge, Bilder oder Menschen.
Wichtigstes Accessoire der Berliner Slow-Go-Bewegung ist der knallrote Gehstock. Der soll Begleiter und eine Art Stressbremse sein. Denn gleichzeitig schnell gehen und mit dem Flanierstock im Boden Dinge entdecken oder herumstochern, das funktioniert nicht. Gespendet werden sie von „Stockpaten“, also Menschen, die aus dem Schirmständer, vom Dachboden oder Flohmarkt Spazierstöcke bringen, die bis dato schon eine beachtliche (und zumeist geheime) Geh-Geschichte erlebt haben. Die markante rote Signalfarbe sehen die Initiatoren als poetisches Augenzwinkern und als Startsignal in ein neues Kapitel des Gehens.
Selbst wenn es manchem belanglos erscheinen mag, gibt es doch schon verschiedene andere, vergleichsweise simple und unbewusst ausgeführte Tätigkeiten oder Gewohnheiten, die gewinnbringend neu erlernt werden können, man denke nur ans richtige Atmen oder Sitzen oder Schlafen. Beim Flanieren werden jedenfalls keine Ressourcen verschwendet, es vergiftet unsere Umwelt nicht und kostet uns nichts. Wir sollten es wieder mehr wertschätzen, so Schütt, einfach loslaufen zu können.