Genossen schaffen mehr

Den nachfolgenden Beitrag von Sven Schlickowey entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Bergischen Boten, dem Print- und Onlinemagazin für Bergisches:

Bergisches Land | Wenn Sonja Leverkus ihrem Job im Dorfladen Thier nachgeht, unterscheidet sie sich nicht von anderen Angestellten im Lebensmitteleinzelhandel. Schnell sind ein paar Scheiben Käse runtergeschnitten und ausgewogen. „Darf es noch etwas sein?“, fragt sie. Genauso wie in jedem anderen Supermarkt der Republik auch. Doch eines ist anders: Das kleine Lebensmittelgeschäft in einer Wipperfürther Außenortschaft, Sonja Leverkus´ Arbeitgeber, ist eine Genossenschaft.

Der Dorfladen Thier ist kein gewinnorientiertes Unternehmen, sondern gehört knapp 190 Bürgern, die sich zusammengeschlossen haben, um die „Einwohner von Thier mit Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs“ zu versorgen, wie es in der Satzung heißt. Rund 500 Familien leben in Thier. Und als 2012 die letzte Bäckerei im Ort schloss, hatten die keine Einkaufsmöglichkeit mehr. Also nahm man sein Schicksal selbst in die Hand. Zu einer ersten Versammlung seien mehr als 100 Menschen gekommen, erinnert sich Thomas Karthaus, inzwischen Vorstands­vorsitzender der Genossenschaft.

Mit einer Umfrage klärten die Initiatoren ab, dass es im Dorf genug Kaufkraft und vor allem genug Interesse gibt. Kurz darauf stand der Plan, einen Markt in Eigen­regie zu eröffnen. „Dabei war eine Genossenschaft einfach die beste Lösung“, sagt Thomas Karthaus. „Auch weil wir uns sicher waren, dass das die Leute an den Laden bindet.“ Mehr als 50.000 Euro trugen die Genossen schließlich an Einlagen zusammen. Und Anfang 2014 eröffnete endlich der Dorfladen samt kleinem Café. Gewinn mache der kaum, sagt Karthaus, für das Dorf sei er aber von zentraler Bedeutung: „Er dient nicht nur der Nahversorgung, sondern ist auch ein Treffpunkt für alle und ein wichtiger Kommunikationsort.“

Die Idee, sich zusammenzuschließen, um etwas zu schaffen, was der Einzelne nicht alleine hinbekommt, ist nicht neu. Innungen, Zünfte und andere Schwurgemeinschaften sind schon aus dem Mittelalter bekannt. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden daraus die ersten Genossenschaften, anfangs für Handwerker und Landwirte. Einer, der diese Idee damals besonders voranbrachte, wäre in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden: Friedrich Wilhelm Raiffeisen.

Heute schätzt man, dass es in ganz Europa mehr als 140.000 Genossenschaften gibt, statistisch gesehen ist etwa jeder vierte Deutsche Mitglied in einer. Allein in den 21 Kommunen Rhein- und Oberbergs sind nicht weniger als 30 Genossenschaften registriert, in Remscheid weitere sieben. Genossenschaften begegnen uns überall – zum Teil, ohne dass wir es merken. Sie erzeugen Energie, versorgen Ortschaften mit Wasser, schaffen Wohnraum oder dienen als Einkaufsgemeinschaft. Am bekanntesten sind sicherlich die genossenschaftlichen Banken, die landwirtschaftliche Erzeugergenossenschaft RWG mit ihren Raiffeisenmärkten und die Bau-Genossenschaften, die es in fast jeder Stadt gibt. Aber auch Waldbesitzer organisieren sich so, in Wermelskirchen gibt es eine Einkaufsgenossenschaft für Autohändler und auch Soennecken, der erfolgreiche Großhändler für Bürobedarf aus Overath, ist eine Genossenschaft. Genauso wie das Arzt-Netzwerk Bergisch Land in Remscheid.

Bekannt ist die RWG Rheinland (bis vor kurzem REG Bergisch Land und Mark) vor allem für ihre Raiffeisenmärkte von Wuppertal bis Overath. Gegründet wurde die Genossen- schaft von Bauern, um zusammen Material einzukaufen und ihre Erzeugnisse gemeinsam zu vermarkten.

Ihnen allen ist gemein, dass sie zwar wirtschaftlich agieren, die Gewinnerzielung aber nicht im Fokus steht. Ziel jeder Genossenschaft ist die „wirtschaftliche Förderung der Mitglieder“. Dabei können auch Genossenschaften nicht die kapitalistischen Marktgesetze außer Kraft setzen. Die Frage, ob der Geldbeutel der Teilhaber und Investoren oder das Wohl der Mitglieder im Mittelpunkt steht, macht aber einen großen Unterschied.

Und manchmal entsteht daraus auch noch mehr. Als Hildegard Wolf und ihr inzwischen verstorbener Mann vor fast 20 Jahren an der Gründung einer Genossenschaft beteiligt waren, ging es vor allem um die Sorge, dass die Buchpreisbindung eines Tages aufgehoben wird. „Uns Kleinen war klar, dass die Großen dann die Schubladen aufmachen würden und uns vom Markt verdrängen“, erinnert sich Hildegard Wolf, die in Kürten den Bücherwolf betreibt. So entstand am Rande einer Software-Schulung der Gedanke, sich mit vielen „Kleinen“ zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen. 15 Buchhändler, darunter die Wolfs, gründeten so im Jahr 2000 eBuch.

Heute hat die Genossenschaft über 800 Mitglieder und bezeichnet sich als „Deutschlands größte Verbundgruppe im Buchhandel“. Sie wickelt auf Wunsch den Einkauf ihrer Mitglieder ab, inklusive fester Rabatte, gibt ein Kundenmagazin heraus und bietet mit genialokal.de Buchhandlungen die Möglichkeit, im Internet aktiv zu sein. „Ich glaube nicht, dass es den Bücherwolf ohne die Genossenschaft heute noch geben würde“, sagt Hildegard Wolf – und meint damit nicht nur die wirtschaftlichen Vorteile, die eBuch bietet. Auch der Austausch untereinander sei wichtig. Und die organisatorische Hilfe. „Nur so kann ich das Geschäft alleine führen.“

Genossenschaften gibt es in allen erdenklichen Größen und Formen. Im Gummersbacher Ortsteil Hülsenbusch wird die letzte verbliebene Kneipe, die Gaststätte Jäger, als Genossenschaft betrieben, was nun auch als Vorbild für den Erhalt des Haus Eifgen in Wermelskirchen dienen soll. Und weil die Hülsenbuscher damit so gute Erfahrungen gemacht haben, bauen sie sich auch ihr neues Ärztehaus in dieser Rechtsform. Gut zwölf Kilometer südwestlich davon hat in Wiehl die Volksbank Oberberg ihren Sitz. Die gehört heute schon, getragen von mehr als 36.000 Mitgliedern, zu den größten genossenschaftlichen Geldinstituten in Deutschland.

2020 wird sich ihre Größe durch Fusion mit der VR-Bank Rhein-Sieg verdoppeln. Doch der genossenschaftliche Gedanke, betont Ingo Stockhausen, ist keine Frage der Größe. „Unsere genossenschaftlichen Werte haben viele Moden, Trends und Zeiten mit Erfolg überlebt. Sie werden auch in Zukunft für Erfolge sorgen“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Volksbank Oberberg, der auch Sprecher der Genossenschaftsbanken im Bergischen ist. Egal, wie groß das Institut werde, das Mitglied sei „der Souverän“ der Bank, so Stockhausen: „Wir sind eine Wertegemeinschaft mit Verantwortung für die Region und die Menschen, in deren Mitte wir leben und arbeiten.“

Mehr als 80 Niederlassungen betreiben die sechs genossenschaftlichen Banken in Ober- und Rhein-Berg und Remscheid.

Kein Wunder also, dass Genossenschaften nicht nur dazu dienen, gemeinsam etwas zu erreichen, sondern oft auch in solchen Bereichen positiv auffallen, in denen der Kapitalismus allzu wild wütet. Viele Volks- und Raiffeisenbanken verzeichneten zum Beispiel nach der letzten Bankenkrise Zuwächse, offensichtlich kehrten viele Kunden den Geschäftsbanken den Rücken. Und in Zeiten von knappem Wohnraum und Berichten über rücksichtslos agierende Wohnungsunternehmen gewinnen Bau-Genossenschaften an Beliebtheit.

In Bergneustadt lebt zum Beispiel fast jeder achte Mieter in einer Wohnung der Gemeinnützigen Wohnungsbau- und Siedlungsgenossenschaft (GeWoSie), die noch viel mehr macht, als „nur“ Wohnraum zur Verfügung zu stellen. „Unsere Aufgabe ist die Förderung der Mitglieder vorrangig in der Wohnraumversorgung, aber auch im allgemeinen Leben“, sagt Vorstand Georg Freidhof. Dazu gehöre zum Beispiel die Schaffung von Begegnungsräumen für Jugend- und Seniorengruppen oder auch Singkreise. Vor allem aber sei man durch das genossenschaftliche Dauerwohnrecht „sicher vor Spekulanten und Eigenbedarf“, wie Freidhof sagt: „Unser Bestreben ist, dass Sie sich bei uns wohlfühlen – so lange Sie möchten.“

Dabei unterlägen auch Baugenossenschaften durchaus betriebswirtschaftlichen Grundsätzen, sagt Thomas Nebgen. „Aber es gibt niemanden, der Geld aus einer Genossenschaft ziehen kann.“ Nebgen leitet die Genossenschaft für Bau- und Siedlungswesen (GBS), die rund 1.300 Wohnungen in Hückeswagen, Wermelskirchen, Burscheid, Remscheid und Wipperfürth vermietet. Dass die sich dem Wohl der Mitglieder statt dem von Investoren verpflichtet fühlt, „da hängt viel hinten dran“, sagt Nebgen: „Wir können unsere Mieteinnahmen komplett reinvestieren, in Dinge, die den Mitgliedern zugutekommen.“ Und während große Wohnungsgesellschaften vor allem darauf bedacht seien, Geld aus den Immobilien zu ziehen, um sie dann mit Gewinn weiterzuverkaufen, gehe es Genossenschaften darum, das eigene Vermögen im Sinne der Mitglieder zu bewahren.

In Hückeswagen-Wiehagen befindet sich der Sitz der GBS, eine von zahlreichen Wohnungsbaugenossenschaften im Bergischen Land. 

Lange nicht jeder GBS-Mieter habe dieses System komplett erfasst, gibt Thomas Nebgen zu: „Für viele sind wir leider ein ganz normaler Vermieter.“ Das gelte vor allem für Regionen, in denen keine Wohnungsnot herrscht. Doch je angespannter der Mietmarkt, umso offensichtlicher die Vorteile der Genossenschaft. „In Köln sind die Genossenschaftswohnungen ja zum Beispiel auch sehr viel günstiger als die privater Vermieter.“ Doch selbst ohne finanziellen Vorteil schwört Nebgen auf „sein“ Modell. Auch und vor allem, weil jedes Mitglied bei Abstimmungen eine Stimme hat: „Das ist echte Demokratie.“

Ein Genossenschaftsmitglied ist eben immer mehr als „nur“ Kunde. Schließlich gehört ihm ja ein Stück der Genossenschaft. So ging auch in Wipperfürth-Thier der Plan, die Bewohner so an den Dorfladen zu binden, auf. Die Zahl der Kunden übersteige die der Mitglieder deutlich, sagt Vorstand Thomas Karthaus. Und selbst wenn Mitglieder versterben, würden deren Erben die Anteile meist behalten – sogar wenn sie gar nicht in Thier wohnen. „Den ersten Austritt hatten wir erst nach drei Jahren. Und da hat sich ein anderes Mitglied spontan bereit erklärt, die Anteile zu übernehmen.“

Und Buchhändlerin Hildegard Wolf nimmt selbst in den Urlaub die Adressen anderer eBuch-Mitglieder mit, um die Kollegen in ihren Geschäften zu besuchen. „Viele sind längst Freunde geworden“, sagt sie. Den Grundgedanken der Genossenschaften hat Hildegard Wolf völlig verinnerlicht – und lebt ihn auch außerhalb von eBuch. Vor kurzem entdeckte sie einen Hersteller von Non-Book-Artikeln mit regionalen Motiven. Die Erstellung des Bildes, die Einrichtungskosten und der Mindestbestellwert wären für Hildegard Wolf alleine aber nicht zu stemmen gewesen. Also sprach sie Kolleginnen aus der Region an und begeisterte sie für die Idee. Was keines der Geschäfte alleine hinbekommen hätte, klappte gemeinsam: Inzwischen sind die Tassen, Magnete und Schlüsselanhänger mit dem exklusiven Bergisch-Land-Motiv in fünf regionalen Buchhandlungen erhältlich.

Hildegard Wolf in ihrem Laden in Kürten

(Beitragsfoto: Hier geht es nicht nur um Käse und andere Lebensmittel: Sonja Leverkus im Dorfladen Thier © Fotos: Sven Schlickowey )

Sven Schlickowey ist der leitende Redakteur beim Bergischen Boten. Geboren in Wipperfürth und aufgewachsen in Hückeswagen absolvierte er seine Ausbildung beim Remscheider General-Anzeiger, der Westdeutschen Zeitung, der dpa und beim WDR. Sven Schlickowey ist verheiratet und lebt mit Frau und zwei Kindern in Hückeswagen, er ist Fan des VfL Gummersbach, mag gutes Essen, schräge Bücher (z.B. Christopher Moore, Jim Knipfel) und natürlich alles, was mit Star Wars zu tun hat

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