Der vergessene Literaturnobelpreisträger 

Student Linus Richter organisiert eine Tagung über den meistgelesenen deutschen Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Paul Heyse

VON UWE BLASS

Manchmal können ganz normale Seminare an der Universität eine Initialzündung sein, um längst vergessene Themen wieder aufleben zu lassen. Im Fall des Studenten Linus Richter war es die Begegnung mit dem deutschen Schriftsteller Paul Heyse, die nun in eine Tagung mündet, auf der sich Wissenschaftler:innen mit dem Ausnahmetalent der schreibenden Zunft des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschäftigen.

Mit Sprache Landschaft zeichnen

Paul Heyse (1830 – 1914) schuf im Laufe seines Lebens rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Trotzdem kennen heute viele Menschen kaum noch seinen Namen. Linus Richter kam auch nur durch Zufall zu dem interessanten Literaten, weil er an einem Seminar in der Germanistik teilnahm, welches sich mit deutschen Nobelpreisträgern beschäftigte. „Das Thema hat mich sehr fasziniert. Wenn man Heyse heute liest, ist er immer noch sehr zugänglich, also sowohl von seiner Sprache als auch von seinen Themen“, sagt Richter. Vor allem die Novellen vom Gardasee haben es ihm angetan, denn in denen komme die ganze Bandbreite seines Könnens zum Ausdruck. „Das Thema ist ja als Urlaubsort bis heute beliebt. Heyse schafft es, mit Sprache Landschaft zu zeichnen und das ist phantastisch. Auf seinen Italienreisen hatte er immer ein Skizzenbuch dabei und hat versucht, mit dem Bleistift die Landschaft zu zeichnen. In der Novelle gibt er selber zu, dass er am Ende eher mit den Worten gemalt habe. Das ist typisch für Heyse, Landschaften zu beschreiben in einer ausgefeilten Sprache, so dass man sich das bildlich vorstellen kann. Er hat eine Sprachqualität, die heute kaum noch jemand erreichen würde, glaube ich, und das hat mich total fasziniert, denn sie ist nicht antiquiert.“

Der meistgelesene Schriftsteller seiner Zeit

Es ist kaum vorstellbar, dass der meistgelesene Schriftsteller seiner Zeit einem heutigen Lesepublikum kaum noch bekannt ist. Vielleicht liege das daran, dass Heyse in seinem gesamten Werk keinen richtigen Bestseller geschrieben habe, mutmaßt Richter. „Viele Schriftsteller sind ja vor allem für bestimmte Werke bekannt. Selbst bei Goethe denkt man zuerst an Faust oder Werther, aber er hat auch sehr viel geschrieben, was heute keiner mehr liest, also z. B. Stella oder Hermann und Dorothea. Zudem ist das Ende in vielen Werken von Paul Heyse nicht versöhnlich, sondern hinterlässt beim Leser ein Unbehagen. Man ist dann unzufrieden mit dem Ausgang.“ Ebenso seien seine Themen nicht mehr aktuell, denn er habe für ein Publikum geschrieben, welches nicht mehr existiert. Historisch sei er dennoch interessant, weil man über Heyse erfahren könne, wie die Menschen zur Kaiserzeit gelebt und gedacht haben. Als Beispiel können man das Thema Treue nennen.

Von Jugend an mit Kultur vertraut

Geboren als Kind eines Professors für Philologie in Berlin und einer Mutter, die aus der Berliner Salonkultur kam, hatte Paul Heyse bereits im Elternhaus in frühester Jugend mit vielen Schriftstellern Kontakt. Daraus entwickelte er eine eigene Gastgeberschaft die er in späteren Jahren in München ausgiebig pflegte. „Heyse war ja studierter, promovierter Romanist, ein Fach, welches in dieser Zeit erst entsteht. Er hatte zunächst in Berlin studiert und ist dann nach Bonn gegangen. Dort studierte er bei dem ersten Professor für romanische Philologie“, berichtet Richter.


Er erhielt als junger Mann eine Anstellung beim bayerischen König Maximilian II. und kam dort in den königlichen Gesprächsrunden mit vielen Wissenschaftlern in Kontakt. Dazu Richter: „Man kann bei Heyse feststellen, dass er an allen Themen sehr interessiert war, also nicht nur an Kunst. Diese Symposien des Königs waren sehr interessant aufgebaut. Zunächst gab es einen wissenschaftlichen Vortrag und danach hat einer der Schriftsteller etwas neues, Selbstgeschriebenes vorgetragen. Das waren aber keineswegs zwei Blöcke, sondern das ging ineinander über. Die Schriftsteller haben also auch bei wissenschaftlichen Themen mitdiskutiert und auch andersherum. Das war bereits interdisziplinär, eine gegenseitige Befruchtung im Denken.“ Heyse sei damals schon sehr aktuell gewesen. Er habe u.a. damals schon eine Novelle mit der Fragestellung der Sterbehilfe verfasst und innerhalb der Novelle diskutiert. „Das ist häufig so“, fährt Richter fort, „dass er zeitaktuelle, moralische Fragen stellt und die nicht mit einem klaren ja oder nein beantwortet, sondern den Lesern die Möglichkeit gibt, darüber nachzudenken. Heyse schreckte nicht vor heiklen Themen zurück.“

Bildungsreise nach Italien

Heyse-Porträt von Adolph Menzel(1853)

Sein Verhältnis zu Italien ist sehr interessant. Viele seiner Novellen spielen dort und er gilt als einer der größten Kulturvermittler zwischen Italien und Deutschland im 19. Jahrhundert. „Er geht 1852 auf Studienreise nach Italien und sucht nach unedierten Schriften“, berichtet Richter. „Zwischenzeitlich ist er da auch im vatikanischen Archiv in Rom, wird dort aber rausgeworfen, weil er sich Notizen macht. Klar ist, dass es eine Bildungsreise ist, die sich aber nicht, wie die meisten dieser Reisen, an Goethe orientiert. Heyse ist unvoreingenommen nach Italien gereist und hat dennoch dieses unglaubliche Gefühl erlebt, allerdings nicht in Rom, sondern in Neapel, am Golf von Sorrent.“ Dort habe er einfach mit den Italienern zusammengelebt und versucht, deren Mentalität näherzukommen. Es sei nicht der intellektuelle Austausch gewesen, aber die Erfahrungen dieser Reise bildeten den Grundstock seiner Werke, also seine gesamten visuellen Eindrücke der Landschaften und der Menschentypen. „Seine Novellen sind wie ein Theaterstück aufgebaut. Er hat ein Ensemble mit bestimmten Charakterzügen. Unsere Vorstellung der feurigen Italienerin, die stammt eigentlich von Heyse. Seine bekannteste Novelle „L`Arrabbiata“ bedeutet ja übersetzt, die Feurige. Da ist die Hauptfigur Laurella, sie hat lockiges, schwarzes langes Haar und feurige Augen. Das ist zwar Klischee, aber das kommt häufig bei ihm vor. Viele Stereotypen, die wir heute haben, stammen aus dem Werk von Heyse, sind aber heute davon entkoppelt. Wir haben vergessen, wo sie herkommen.“

Münchens beliebter Gastgeber

In München galt Heyse nicht nur als literarisches Vorbild und einflussreicher Kunstpapst, sondern auch als beliebter Gastgeber. Die kulturelle Elite gab sich bei ihm im wahrsten Sinnes des Wortes die Klinke in die Hand. „Das spannende ist dabei, dass er das in einer Regelmäßigkeit getan hat. Im Grunde genommen, hatte er jeden Tag Gäste. Man kann das wirklich mit Goethe vergleichen, der ja auch sein Haus in Weimar hatte, wo jeder hinfuhr, um sich vom großen Dichterfürsten Anerkennung abzuholen. Das war bei Heyse auch so. Genau wie Goethe hatte Heyse sein Haus zu einer Art Dichterheim mit vielen Objekten, die herumstanden, ausgebaut, so dass der Aufenthalt zu einem Erlebnis wurde.“


Adolph von Menzel, Maler, Graphiker und Zeichner (Mitte) mit dem Schriftsteller Paul Heyse und dessen Frau in der Münchener Wohnung Aufnahme 1902 / ADN-ZB/Archiv

Ein anderer Aspekt bei Heyse sei, dass er nicht nur Leute zu sich eingeladen, sondern auch mit ebenso vielen Künstlern korrespondiert habe. In seinem Nachlass befinde sich dementsprechend eine riesige Menge an Briefen. „Er hat jeden Tag zig Briefe geschrieben, ist in Kontakt geblieben mit vielen Leuten und hat sich ein Netzwerk mit Freundschaften zu auch heute noch sehr bekannten Personen wie Theodor Fontane, Theodor Storm, Gottfried Keller oder Wilhelm Raabe, also alles Namen der Epoche des Realismus, aufgebaut und erhalten.“

Ein streitbarer, kompromissloser Geist

Paul Heyse hat sich zeitlebens für seine Autorenkollegen eingesetzt. Nachdem man seinem Dichterfreund Emanuel Geibel in München die Pension entzog, verzichtete auch Heyse auf seine. Als sein Vorschlag, den Dichter Ludwig Anzengruber in den Bayerischen Maximiliansorden aufzunehmen, abgelehnt wurde, trat er aus dem ehrenvollen Orden aus. Mit der Zeit wurde er immer mehr zum selbstbewussten Kritiker der deutschen Kulturpolitik. „Er bringt sich in öffentliche Diskussionen immer wieder ein. Er stellt sich vor seine Autorenkollegen und hat es immer abgelehnt, wenn Dichter aus politischen Gründen benachteiligt wurden. Er war immer solidarisch mit seinem Stand“, sagt Richter. Ebenso war ihm Antisemitismus zuwider, den er auch im deutschen Kaiserhaus kritisierte. „Er stand Wilhelm II. sehr kritisch gegenüber und sah ihn als den Anfang vom Ende an.“ Seinem jüdischen Autorenkollegen Ludwig Fulda verwehrte der Kaiser den renommierten Schillerpreis für dessen Werk Talisman. „Interessant ist der Vergleich zwischen Fulda und Heyse auch deswegen, weil beide Autoren, die damals außerordentlich erfolgreich waren, heute nahezu vergessen sind. Heyse war der meist gelesene und Fulda der meist gespielte Schriftsteller. Seine Theaterstücke waren extrem populär bis 1933. Das hat natürlich mit seiner jüdischen Herkunft zu tun. Im Grunde ist es bei Heyse ein ähnlicher Fall. Zwar war er schon vorher vergessen, denn den Zenit hatte er um 1900 überschritten und als er starb, begann der Erste Weltkrieg. Dann gab es einen wahninnigen gesellschaftlichen Wandel, denn nach dem Krieg war die Gesellschaft eine andere. Mit dem Nationalsozialismus ist dann auch das Publikum eines Paul Heyse schlicht weg.“ Die Frage, die sich Richter für die Germanistik für beide Autoren stellt, ist, wie sehr wir uns von der Literaturgeschichtsschreibung des Nationalsozialismus gelöst haben? „Wir verlassen uns zu stark auf die Überlieferung. Da sind uns sicher wahnsinnig viele Persönlichkeiten verloren gegangen, denn der Antisemitismus spielt bei Heyse auch eine Rolle. Auch er hatte jüdische Wurzeln. Ich glaube, Heyse ist ein warnendes Beispiel dafür, dass man sich nicht darauf verlassen sollte, dass unsere Klassiker wirklich die einzigen sind. Wenn ich heute Theodor Fontane verstehen will, muss ich mir Paul Heyse anschauen.“

Dritter Literaturnobelpreisträger

Theodor Fontane glaubte 1890, dass Heyse seiner Epoche den Namen geben werde und meinte, das „Heysesche Zeitalter“ würde dem Goetheschen folgen. 1910 wurde Paul Heyse als dritter deutscher Autor mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Die Begründung der Jury lautete: ´als Huldigungsbeweis für das vollendete und von idealer Auffassung geprägte Künstlertum, das er während einer langen und bedeutenden Wirksamkeit als Lyriker, Dramatiker, Romanschriftsteller und Dichter von weltberühmten Novellen an den Tag gelegt hat`.
 „Das Besondere bei ihm ist die ausgefeilte Sprache und die Strukturiertheit der Sprache. Seine Novellen sind komponiert, obwohl das ein Unwort in der Kunst ist, weil ja alles im Geiste entsteht. Jedoch sind musikalische Werke komponiert, auch Bilder sind komponiert, und das funktioniert auch so in der Literatur. Man macht sich Gedanken über das Thema, über das passende Setting, und in der Novelle geht es darum, sich genau darauf zu konzentrieren. Beim Roman oder Drama darf es auch schon mal etwas ausschweifender sein. In der Novelle soll aber eine unerhörte Begebenheit – wie Goethe formuliert- sehr präzise präsentiert werden, und das schafft Heyse außerordentlich gut.“

Tagung an der Bergischen Universität

Grabstätte für Paul und Anna Heyse im Münchner Waldfriedhof (c) PaulSch – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0,

Man sagt, er sei der letzte große Erzähler des 19. Jahrhunderts gewesen, als er kurz vor dem Ersten Weltkrieg starb. Die Tagung geht im Wesentlichen um die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Paul Heyse. Richter schildert das Problem: „Es gibt leider bis heute viel zu wenig Grundlagenforschung, weshalb sich kaum jemand für ihn interessiert. Man hat sich nicht mit seiner Literatur auseinandergesetzt. Auf der Tagung schauen wir auf sein Werk, um ihn auch einordnen zu können. In seiner Korrespondenz mit anderen Schriftstellern zeigt sich deutlich, wie sehr er geschätzt wurde, und wir versuchen herauszufinden, was ihn von den anderen unterscheidet und was ihn mit ihnen verbindet. Sein Nachlass ist so riesig, dass sich da keiner wirklich ran traut.“

Die von Linus Richter organisierte Tagung in Wuppertal ist zumindest schon mal ein Anfang.


Linus Richter studiert Germanistik und Geschichte an der Bergischen Universität

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