Soziale Medien bieten Potentiale, Geschichte anders zu erzählen

Dario Treiber über geschichtliches Lernen und Emotionen anhand des Instagram-Projekts „@ichbinsophiescholl“

VON UWE BLASS

Historische Geschichten im Film sind uns nicht fremd. Von der ägyptischen Herrscherin ‚Cleopatra mit Elisabeth Taylor über das mittelalterliche, schottische Schlachtenepos ´Braveheart‘ mit Mel Gibson, dem Vietnamalbtraum ´Apocalypse Now’ mit Marlon Brando, oder dem Holocaust-Drama ´Schindlers Liste mit Liam Neeson hat sich das Medium Film seit Bestehen immer wieder mit Geschichte auseinandergesetzt.

Cleopatra © r2hox from Madrid, Spain -, CC BY-SA 2.0

Von Mai 2021 bis April 2022 gab es nun erstmalig vom Südwestrundfunk (SWR) und dem Bayerischen Rundfunk (BR) initiiert, eine knapp ein Jahr dauernde Instagram-Geschichte, die sich mit den letzten zehn Monaten der im Zweiten Weltkrieg hingerichteten Widerstandskämpferin Sophie Scholl beschäftigte. Dario Treiber, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Geschichte und ihre Didaktik in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität beschäftigt sich in seiner Dissertation mit diesem Instagram-Projekt und der Frage: Was bedeuten die darin ausgelösten Emotionen für die Rezeption von Geschichte?

@ichbinsophiescholl

© @ichbinsophiescholl

Neue Wege in der Geschichtsvermittlung? Die beiden Sender SWR und BR stellten sich vor drei Jahren die hypothetische Frage, wie ein Instagram-Account von der 1943 zum Tode verurteilten Widerstandskämpferin Sophie Scholl ausgesehen haben könnte und initiierten eine knapp zehn Monate dauernde Social-Media–Geschichte, die die User am Leben der jungen Studentin teilhaben lassen sollte. 

„Als der Kanal 2021 online ging, hat es nicht lange gedauert, bis er relativ kontrovers diskutiert wurde“, sagt Dario Treiber. „Das Feuilleton war sehr gespalten zwischen Lob und Kritik. Auch in der Geschichtsdidaktik gab es Kontroversen darüber, ob man historische Themen auf diese Art und Weise darstellen sollte.“ 

Eine Frage, die Treiber dabei besonders beschäftigte und nun Thema seiner Dissertation wurde, war die Rezeption dieser Instagramstory durch Schülerinnen und Schüler, einer Zielgruppe, die sich eigentlich tagtäglich in diesem Medium bewegt. In den Kommentaren des Accounts fanden sich viele Kommentare, die emotionale Reaktionen auf die Darstellungen schildern. „Es war viel die Rede davon, dass sich die User in die Zeit versetzt fühlten, dass sie mit den historischen Figuren mitfühlten, teilweise auch ein körperliches Unbehagen schilderten, beim Anschauen der Stories“, erklärt er und fragte sich weiter: „Wenn diese Darstellung also solche emotionalen Reaktionen auslösen kann, wie wirkt sich das denn dann auf Schülerinnen und Schüler aus? Welchen Einfluss haben diese emotionalisierenden Darstellungen auf das Rezeptionsverhalten der Jugendlichen?“

Nachempfundene Echtzeit

Wie ruft nun aber der Kanal die Emotionen hervor? Verschiedene Modi ließen sich auf dem Kanal beobachten, sagt der Forscher und das sei auch von den Machern intendiert. So sprächen sie auch von ´hautnaher und nachempfundener Echtzeit`, erläutert Treiber und nennt ein Beispiel: „In den Wochen vor der Verhaftung wird in der Erzählung auf Instagram eine Parallelität zwischen dem letzten Flugblatt der Weißen Rose und der Sportpalastrede von Joseph Göbbels geschaffen, die ja auch am 18. Februar 1943 stattgefunden hat. Auf dem Kanal wird es so dargestellt, dass zwischen diesen beiden historischen Ereignissen eine Verbindung bestanden hat, dass also die Weiße Rose ihre Flugblätter verteilen wollte, bevor die Rede begann. Das hat natürlich einen dramaturgischen Effekt, das ist eine packende Erzählung. Es gibt aber historisch gar keine Anhaltspunkte dafür, dass es zwischen den beiden Ereignissen eine Verbindung gab. Das ist ein Modus der Emotionalisierung. Historische Abläufe oder Kausalitäten werden so abgeändert, dass eine packende Dramaturgie entsteht, obwohl das die Quellen gar nicht hergeben.“ Als Zuschauer sei man aber davon gefangen, man fiebere mit. Das Verändern von historischen Abläufen könne dann Emotionen hervorrufen.

Sportpalast (c) Bundesarchiv, Bild 183-J05235 / Schwahn / CC-BY-SA 3.0

Vermeintlich lebendige Geschichte im Instagram-Takt

„Social Media und geschichtswissenschaftliches Arbeiten gehen an vielen Stellen ganz unterschiedlich vor“, sagt Treiber, „Social Media ist kurzlebig, schnell und lebt natürlich davon, dass man regelmäßig Content (qualifizierten Inhalt, Anm. d. Red.) braucht. Es mussten über zehn Monate hinweg jeden Tag Inhalte erstellt werden.“ Das Problem dabei sei jedoch, dass die Quellenlage das nicht hergebe, denn man könne manchmal über einige Wochen keine Aussage treffen. Und so seien dann auch die Wirkungsmechanismen der Sozialen Medien anders. „Dennoch bieten sie Potentiale, Geschichte anders zu erzählen. Gerade in Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus befinden wir uns ja in einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen bald nicht mehr am Leben sein werden“ erklärt Treiber, so dass man über neue digitale Wege nachdenken müsse, durch die man über Geschichte mit jungen Menschen im Gespräch bleibe. Wichtig sei dabei, dass man sich über die Funktionsweisen der neuen Medien bewusst sei.

Projekttag mit drei Schulklassen im Alter von 14 bis 16 Jahren

Treiber fragt in seiner Dissertation, wie dieser Kanal von Schülerinnen und Schülern rezipiert wird. Speziell untersucht er dabei den Einfluss der Emotionen auf historische Denkprozesse. Dazu hat er mit Jugendlichen dreier Schulklassen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren gearbeitet und dabei Daten erhoben. „In diesem Alter werden Emotionen meist nicht offen artikuliert. Daher habe ich die Schüler in Einzelarbeit mit dem Kanal arbeiten lassen. Sie hatten die Aufgabe, selbst einen Kommentar zu einem Beitrag, den sie frei ausgesucht hatten, zu verfassen. Darin sollen Hinweise auf emotionale Reaktionen ausgemacht werden.“ Das habe nach einer ersten Sichtung der Antworten auch funktioniert. Die Schüler seien sehr offen gewesen. „Eine andere Methode war, dass die aufgezeichneten Gruppendiskussionen der Schüler, in denen sie über den Kanal ins Gespräch gekommen sind, ohne meine Teilnahme abliefen.“ Auch das habe die Bereitschaft erhöht. „Bei der Erforschung von Emotionen hat man immer das Problem, sie werden zwar empfunden, aber müssen auch artikuliert werden, mit dieser Diskrepanz muss man umgehen.“ Mit diesen Daten will Treiber nun herausfinden, was die Schüler mitgenommen haben und inwiefern der Kanal emotionale Reaktionen ausgelöst habe. „Was ich auf jeden Fall schon jetzt sagen kann, viele Schüler sehen den Instagramkanal als Ergänzung zum Geschichtsunterricht. Aber sie wissen auch, dass man sich darüber hinaus auch über andere Medien informieren muss. Texte und Dokumentationen werden von vielen als seriöser wahrgenommen als soziale Medien.“

Das Medium Film und der Umgang mit Geschichte

Zeitzeugen, Sachbücher und Literatur können Anlässe zum historischen Denken darstellen. Das Medium Film hat aber auch schon in der Vergangenheit die Diskussion um geschichtliche Ereignisse beeinflusst. „Filme haben schon einiges verändert, vor allem in der Diskussion um die Geschichte des Nationalsozialismus“, sagt Treiber und fährt fort, „beispielsweise die Ausstrahlung der Serie ´Holocaust’ in den 70er Jahren oder auch der Film ´Schindlers Liste`, das waren Zäsuren, die die gesellschaftliche Debatte stark verändert haben.“ Social Media stelle ebenfalls eine Zäsur dar, weil es andere Möglichkeiten biete, Geschichte zu erzählen. Zwar gäbe es Parallelen zum Film, denn allein die Emotionalisierung oder die Vermischung von fiktiven und historisch belegbaren Elementen finde man im Film schon lange. „Aber die Form der scheinbaren Unmittelbarkeit, das ist eine Neuerung in den sozialen Medien. Während der Laufzeit des Kanals hat man ja tagtäglich neuen Content angezeigt bekommen, man ist ständig über diese Geschichte gestolpert und immer wieder damit konfrontiert worden. Das ist ein Unterschied zum Film.“ Eine Kritik, die der Wissenschaftler allerdings mit vielen anderen teilt, ist die vermeintliche Interaktion mit den historischen Figuren. Auf Nachfragen der User antworteten die Macher z.B. teilweise im Namen von Sophie Scholl.

Geschichte in Echtzeit – Gefahr der Geschichtsverfälschung?

Filme erreichen in der Regel viele Zuschauer, wobei die Macher nicht unbedingt kritisch ans Werk gehen. Ein großer Publikumserfolg der letzten Zeit war die Fernsehserie ´Sisi’, um die österreichische Kaiserin und ungarische Königin Elisabeth, wobei die Lebensgeschichte mit ´großen künstlerischen Freiheiten behandelt wurde. Eine solche Herangehensweise birgt natürlich auch die Gefahr der Geschichtsverfälschung. Dazu der Wissenschaftler: „Diese Gefahr sehe ich auf jeden Fall. Das ist ein großes Risiko, was damit einhergeht. Wichtig dabei ist, dass Accounts diese künstlerischen Freiheiten transparent machen.“ 

Es sei auf der anderen Seite aber auch klar, dass die Medienlogiken dieser Plattformen eine andere Aufmerksamkeitsökonomie bedienten, als das wissenschaftliche Arbeiten tun. Hinzu komme, dass die meisten Daten, mit denen sich Wissenschaftler in diesem Bereich beschäftigten, bei Meta (Meta ist das ehemalige Facebook-Unternehmen, Anm. d. Red.) liegen. „Die Plattformen bestimmen, wie die Daten genutzt werden können. Diese sind zum Teil sehr restriktiv, wie auch Forschende mit den Daten umgehen können.“ Zudem sei das Medium unglaublich schnelllebig. Man habe kaum die Möglichkeit, Daten nachhaltig zu archivieren. Diese Bedingungen machten das Forschen schwierig.

Der Einfluss von Emotionen auf das historische Denken

„In der Geschichtsdidaktik herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass historisches Denken kein rein kognitiver Prozess ist“, sagt Treiber, „eine emotionale Komponente ist dabei immer zu berücksichtigen. Welche Rolle Emotionen dabei genau spielen, ist noch relativ unklar, und meine Studie ist ein Versuch, sich dieser Frage anzunähern.“ 

Die emotionalisierenden Darstellungen des Kanals @ichbinsophiescholl bieten sich nach seiner Einschätzung besonders an, um zu untersuchen, wie Geschichtsdarstellungen auf Instagram von Schülerinnen und Schülern wahrgenommen werden. „Die Kommentare des Kanals lassen darauf schließen, dass diese Darstellungen starke Reaktionen ausgelöst haben. Diese Emotionen, die in der Begegnung mit Geschichte auftreten, die versuche ich bei den Schülern zu erforschen.“

Können historische Themen emotionalisieren?

„Bei dem zehnmonatigem Projekt Sophie Scholl waren immer mal wieder Momente dabei, die auch mich emotional berührt haben“, erklärt Treiber und auch aktuelle Filme zu historischen Ereignissen lassen den Forscher nicht kalt. „Gerade kürzlich habe ich den Film ´Zone of Interest’ (Ein Film über den Kommandanten Rudolph Höß, der mit seiner Familie von 1940 bis 1943 neben dem Konzentrationslager Auschwitz lebte, Anm. d. Red.) gesehen, der mich sehr bedrückt hat.“ Und auch die zumindest im historischen Setting angelegte Empiregeschichte ´Bridgerton, eine vollkommen fiktive englische Story, lasse die Zuschauer mitfiebern und dies zeige auf jeden Fall das Interesse an historischen Themen. Die dritte Staffel der Serie lief in 91 Ländern, von Kanada über Österreich und Ägypten bis nach Australien, der Social-Media-Rummel dauert an.

Das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl ließe sich sicher auch auf andere Personen oder Ereignisse anwenden. „Soziale Medien“, sagt Treiber zum Schluss, „bieten die Chance, Geschichten über Personen zu erzählen, die nicht so bekannt sind, auch Widerstandsgeschichten, die nicht so bekannt sind. Man kann viele Perspektiven sichtbar machen.“


Dario Treiber arbeitet als Wissenschaftlicher
Mitarbeiter im Team Geschichte und ihre Didaktik.


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