REDE DES BUNDESPRÄSIDENTEN IN HANAU AM 19. FEBRUAR 2025
Vor fünf Jahren erschoss ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven, danach seine Mutter und sich selbst. Bei der zentralen Gedenkveranstaltung hat Bundespräsident Steinmeier betont, dass die große Mehrheit in Deutschland in Frieden zusammen leben möchte.
Neun junge Leben wurden ausgelöscht in der Nacht des 19. Februar 2020. Neun einzigartige Menschen, die zu uns gehörten. Zu Ihnen, liebe Angehörige und Freunde. Zu Ihrer Stadt, liebe Hanauerinnen und Hanauer. Und zu uns allen in unserem Land, in unserer gemeinsamen Heimat.
Sie waren ein Teil von uns:
Kaloyan Velkov.
Fatih Saraçoğlu.
Sedat Gürbüz.
Vili-Viorel Păun.
Ferhat Unvar.
Mercedes Kierpacz.
Gökhan Gültekin.
Hamza Kurtović.
Said Nesar Hashemi.
Neun besondere Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten, Träumen und Plänen. Neun Menschen, die in Hanau ihre Heimat hatten – in der Stadt, in der sie geboren wurden oder in die sie gekommen waren. Deutschland war ihr Zuhause.
Heute vor fünf Jahren, in jener furchtbaren Nacht, wurden sie hier in dieser Stadt brutal ermordet. Die Kugeln eines Rechtsextremisten rissen sie mitten aus dem Leben. Der Täter erschoss sie in Bars, in einem Kiosk, auf offener Straße. Er wusste nichts von seinen Opfern. Ziel seines rassistischen Hasses waren Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Menschen, die in seinen Augen nicht zu Deutschland gehörten.
Ihr Tod hat endlosen Schmerz und große Leere hinterlassen. Seit fünf Jahren, liebe Angehörige, vermissen Sie Ihre Liebsten, die so plötzlich von Ihrer Seite gerissen wurden. Seit fünf Jahren trauern Sie um Ihren Partner, um Ihre Tochter oder Ihren Sohn; um Mutter oder Vater, Bruder oder Schwester; um Onkel, Tante, Cousin oder Cousine. Seit fünf Jahren ist für Sie nichts mehr wie zuvor.
Neun Menschen fehlen. Sie fehlen ihren Freundinnen, Freunden und Kollegen. Sie fehlen hier in Hanau und in Hessen. Sie fehlen in Deutschland und in den Ländern, in denen sie Verwandte hatten, in der Türkei, in Bulgarien, in Rumänien und anderswo. Nein, sie kehren nicht zurück. Aber wir vergessen sie nicht. Sie leben weiter in unserer Erinnerung.
Liebe Angehörige der Opfer, Deutschland, unser gemeinsames Land, nimmt heute Anteil an Ihrem Schmerz und an Ihrer Trauer. Wir erinnern und wir trauern mit Ihnen. Wir sehen und hören: Der Albtraum des 19. Februar 2020 ist für Sie nicht vorbei. Viele von Ihnen sind seither an Körper und Seele schwer verwundet. Und an diesem Jahrestag überfallen Sie die Erinnerungen mit ganz besonderer Wucht. Wir denken heute auch an die vielen anderen Menschen mit Einwanderungsgeschichte in unserem Land, die der Anschlag von Hanau im Mark erschüttert hat.
Wir alle spüren an diesem Tag die Last, aber hoffentlich auch die Kraft der Erinnerung. Es ist ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag der Vergewisserung: Der Täter zielte damals nicht auf uns alle, aber seine Tat geht uns alle an. Die rechtsextremistisch motivierten Morde von Hanau waren ein Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Sie waren ein Anschlag auf die offene Gesellschaft und unsere liberale Demokratie – genau wie eine Reihe islamistisch motivierter Anschläge der vergangenen Monate.
Wir erinnern uns, und wir spüren unsere Verantwortung für das Heute und das Morgen. Es ist an uns, gegen Rassismus und Rechtsextremismus, gegen Islamismus und gegen jede andere Form der Menschenfeindlichkeit einzutreten. Es ist an uns, für ein gutes Miteinander in unserem Land zu sorgen, jeden Tag und immer wieder aufs Neue. Das ist die Botschaft, die wir heute aus Hanau senden sollten!
In den vergangenen fünf Jahren wurde viel getan, um die Erinnerung an den Anschlag von Hanau wachzuhalten. Und das, liebe Angehörige, ist nicht zuletzt Ihr Verdienst. Sie alle haben eine Menge erreicht im Kampf gegen das Vergessen!
Ich denke an die Mahnwachen und Kundgebungen, die auch heute wieder hier in Hanau und in vielen anderen Städten stattfinden. Ich denke an Ihre Interviews und Auftritte, an Theaterstücke und Dokumentarfilme, die sich mit der Tat und ihren Folgen beschäftigen. Lieber Said Etris Hashemi, lieber Çetin Gültekin, Sie haben Bücher über den Anschlag geschrieben.
Natürlich denke ich auch an die Orte der Erinnerung, die es jetzt hier in Hanau gibt. An die Gräber und Ehrengräber, die Ihnen so am Herzen liegen. An den Gedenkstein zu Ehren von Vili-Viorel Păun, den Helden der Zivilcourage, der den Täter verfolgte, um ihn aufzuhalten – und dabei vergeblich versuchte, den Notruf zu erreichen. Lieber Niculescu Păun, ich finde, nicht nur Sie dürfen stolz sein auf Ihren Sohn. Wir alle sind stolz auf Vili!
Ich weiß, der Ort, an dem das zentrale Denkmal errichtet werden soll, der sorgt auch weiterhin für Debatten, manchmal für Streit. Es ist ein schwieriges, ein aufwühlendes Thema. Aber ich bitte alle Seiten: Bleiben Sie miteinander im Gespräch und gehen Sie aufeinander zu! Es ist doch wichtig, dass ein Erinnerungsort, der den Zusammenhalt stärken soll, tatsächlich dann auch Hand in Hand eingeweiht werden kann! Und ich finde, es ist eine gute Idee, dass Sie auch ein Haus für Demokratie und Vielfalt einrichten wollen. Wir brauchen solche Orte, an denen sich die vielen verschiedenen Menschen unserer Gesellschaft begegnen und austauschen können. Orte, an denen Vertrauen wachsen kann. Denn nur Vertrauen schafft Zusammenhalt.
Auch in vielen anderen Städten lebt die Erinnerung an die neun Toten von Hanau weiter, nicht zuletzt dank der Say-Their-Names-Bewegung. Überall sieht man ihre Namen und Gesichter, auf Aufklebern und Plakaten, an Ampelmasten und Häuserwänden. Heute können wir sagen: Sie sind unvergessen. Das ist nicht selbstverständlich, es ist ein großes Verdienst – und es ist vor allem Ihr Verdienst hier in Hanau. Ich bitte Sie alle: Pflegen Sie diese Erinnerung weiter, damit sie auch in Zukunft lebendig bleibt!
Liebe Angehörige, ich weiß auch, es gibt Fragen, die Ihnen bis heute keine Ruhe lassen: Wie konnte das geschehen? Warum ist es unserem Staat nicht gelungen, Ihre Liebsten zu schützen? Nicht zuletzt: Was haben die Verantwortlichen aus dem Anschlag gelernt?
Diese Fragen gehen uns alle an. Niemand ist unfehlbar, auch verantwortliche Politiker und Beamte sind es nicht. Aber sie haben die Pflicht, die Hintergründe einer Tat aufzuklären, Fehler offenzulegen und, wenn nötig, Konsequenzen zu ziehen. Ich bedauere zutiefst, dass einige von Ihnen, liebe Angehörige, nach der Tat den Eindruck hatten, dass Sie den Staat erst zur Aufklärung drängen mussten. Und ich bedauere zutiefst, dass bei Ihnen Vertrauen in unseren, in Ihren Staat verloren gegangen ist.
Und deshalb war es gut und richtig, sogar wichtig, dass der Hessische Landtag – auch dank Ihrer Beharrlichkeit, liebe Angehörige – einen Untersuchungsausschuss eingerichtet hat. Dank seiner Arbeit wissen wir heute: Es gab vor der Tat, in der Tatnacht und danach Versäumnisse und Fehler von Behörden und Polizei, die nicht hätten passieren dürfen, auch nicht in der Nacht des 19. Februar, die auch für die Einsatzkräfte natürlich außergewöhnlich und belastend war.
Liebe Angehörige, Landtag, Land und Polizei haben Sie deshalb im vergangenen Jahr um Entschuldigung gebeten. Ich weiß, Sie hätten sich gewünscht, dass auch diejenigen, die zur Tatzeit Verantwortung trugen, einen Schritt mehr auf Sie zugekommen wären. Aber als Ihr Bundespräsident sage ich heute: Es schmerzt mich zutiefst, dass unser Staat Ihre Angehörigen nicht hat schützen können. Und es schmerzt mich auch, dass Sie nach der Tat sich an mancher Stelle alleingelassen oder respektlos behandelt gefühlt haben – Sie haben mir davon hier bei unseren Zusammentreffen in Hanau in den vergangenen Jahren und auch beim Zusammentreffen in Berlin mehrfach persönlich berichtet. Im Namen der Bundesrepublik sage ich deshalb heute: Wir tragen Verantwortung, dass die Opfer einer solchen Gewalttat die Anteilnahme erhalten, die sie brauchen. Und den Respekt, auf den sie ein Recht haben!
Und ja, bis heute gibt es offene Fragen, auf die es keine Antwort gibt, vielleicht auch keine Antwort geben kann. Was wäre gewesen, wenn …? Ich kann verstehen, dass Sie das entsetzlich quält. Aber ich bitte Sie von ganzem Herzen: Lassen Sie Wut und Bitterkeit nicht die Oberhand gewinnen! Bitte sehen Sie auch den guten Willen in Stadt, Land und Bund, bitte sehen Sie auch die vielen ausgestreckten Hände, die es überall gibt, die vielen Menschen, die sich hier in Hanau, hier in Hessen, in ganz Deutschland für Zusammenhalt in unserer Gesellschaft engagieren.
Nein, was geschehen ist, kann man nicht ungeschehen machen. Aber Politik und Sicherheitskräfte müssen aus dem Anschlag lernen. Unser demokratischer Rechtsstaat muss wachsam und achtsam sein, und er muss mehr tun, er muss alles tun, um alle Menschen zu schützen, die hier leben – ganz egal, woher sie kommen, woran sie glauben, wen sie lieben. Auch das ist eine Lehre aus Hanau!
Meine Damen und Herren, der Staat ist gefordert – aber auch wir als Bürgerinnen und Bürger sind gefordert. Es ist an uns, Menschenfeindlichkeit, Hass und Gewalt entschlossen entgegenzutreten!
Die Morde von Hanau geschahen nicht aus dem Nichts. Der Täter schöpfte sein rassistisches Weltbild nicht allein aus sich selbst. Zur Vorgeschichte seiner Tat gehören Ressentiments gegen Musliminnen und Muslime, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma. Zur Vorgeschichte gehört auch der vor allem im Internet und in den sozialen Medien verbreitete Hass, der doch darauf abzielt, unser gesellschaftliches Klima zu vergiften und Abgrenzung und Ausgrenzung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu vertiefen.
Die furchtbaren Gewalttaten in Magdeburg und Aschaffenburg, die vermutlich islamistisch motivierten Anschläge in Mannheim, Solingen und jetzt in München, all diese Verbrechen, bei denen so viele Menschen sinnlos ihr Leben verloren haben, erzeugen zusätzlich ein Klima der Angst, das das Zusammenleben der Verschiedenen spürbar schwerer gemacht hat. Viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte erleben das gerade jetzt, wenn sie in diesen Tagen vermehrt Misstrauen und Ausgrenzung erfahren oder unter Generalverdacht gestellt werden. Oder wenn der Tod von Menschen politisch instrumentalisiert wird – oder, wie der Ministerpräsident gesagt hat, sogar zu einem Geschäftsmodell gemacht wird.
Nachdem eine Mutter und ihre zweijährige Tochter an den Folgen des Anschlags von München gestorben sind, hat die Familie der beiden einen bewegenden Aufruf veröffentlicht und darum gebeten, dass der Tod und der Verlust nicht benutzt werden, um Hass zu schüren und ihn politisch zu instrumentalisieren. Ich finde, dieser Aufruf der Angehörigen der Opfer verdient nicht nur Respekt, dieser Aufruf muss uns allen eine Mahnung sein!
Es ist Aufgabe des Staates, Sicherheit zu gewährleisten. Es ist Aufgabe des Staates, Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Aber dass Menschen wegen ihrer Herkunft, wegen ihrer Hautfarbe unter Generalverdacht gestellt werden, das dürfen wir nicht zulassen in unserem Land!
Gemeinsam müssen wir mehr tun – gerade jetzt! –, um das Miteinander in unserer vielfältigen Gesellschaft zu stärken. Deshalb lassen Sie bitte diesen Tag der Trauer und der Erinnerung auch einen Tag der Ermutigung sein.
Dass ausgerechnet Sie, liebe Angehörige, dabei mit gutem Beispiel vorangehen, das ist nach allem, was Sie erlitten haben, ein großes Geschenk für unser Land. Liebe Saida Hashemi, Sie und Ajla Kühn engagieren sich hier in Hanau in der Stadtpolitik. Liebe Serpil Temiz-Unvar, Sie haben eine Bildungsinitiative gegründet, mit dem Namen Ihres Sohnes. Viele von Ihnen arbeiten in der Initiative 19. Februar mit, und Sie haben mir vorhin erzählt, was Sie alles auf die Beine stellen, um Zusammenleben hier in Hanau und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken. Herzlichen Dank an Sie alle für Ihren so wichtigen Einsatz!
Und zum Glück sind Sie ja nicht allein. Es gibt Millionen von Menschen, die sich überall in unserem Land gegen Rassismus und Rechtsextremismus, gegen Islamismus und gegen jede andere Form von Menschenfeindlichkeit engagieren. Ich bin und ich bleibe überzeugt: Die große Mehrheit in unserem Land will in Freiheit, will auch in Vielfalt leben. Aber diese Mehrheit muss jetzt überall hörbar und sichtbar werden! Wir alle können etwas tun, an jedem einzelnen Tag!
Widersprechen wir, wann immer Menschen auf ihre Herkunft, ihre Religion oder ihre Hautfarbe reduziert werden! Stellen wir uns an die Seite derer, die abschätzig angeschaut, beleidigt oder bedroht werden! Machen wir die Sprache des Respekts zur Verkehrssprache in unseren Debattenräumen, auch in den sozialen Medien! Und nicht zuletzt: Gehen wir wählen, und stärken wir die Demokratie des Grundgesetzes – eine Demokratie, in der die Würde jedes Einzelnen zu achten und zu schützen ist! Geben wir der Menschenfeindlichkeit keine Stimme!
Wir gedenken heute der neun einzigartigen Menschen, die vor fünf Jahren hier in Hanau von einem Rechtsextremisten brutal aus unserer Mitte gerissen wurden. Trauer, Schmerz und Mitgefühl machen uns aber umso entschlossener: Wir stehen zusammen. Wir halten zusammen. Wir wollen zusammen leben. Das ist und bleibt die Botschaft von Hanau.
Vielen Dank.