Mehr Migration 

VON WOLFGANG HORN

Gefühlt die Hälfte der Sendezeit des TV-Duells zwischen dem Kanzler und dem Kandidaten ging drauf beim Wettlauf um die Krone des größten Türstehers der Republik. Wer läßt die wenigsten rein und wer wirft die meisten raus? Ausländer, Flüchtlinge, Asylsuchende. Bürgerkriegsopfer, Frauen und kleine Kinder. Gefolterte, Vertriebene. Mal ganz abgesehen davon, daß Nächstenliebe und Solidarität mit den Schwachen sehr wohl die Gesellschaft, unser Land kennzeichnen. Die Kirchen stehen ausnahmslos an der Seite der Schwachen und Verfolgten. Die Sozialverbände und alle nur denkbaren NGO’s. Gewerkschaften. Jugendorganisationen. Künstler. Kulturschaffende. Quer durch die Gesellschaft. Nur nicht mehr die Politik der größeren Parteien in dieser Gesellschaft. Hier hat sich der fatale Wettbewerb, von Rechtsextremisten initiiert, um die Krone der unchristlichen Verfolgungslust bis in die Mitte der Parteienlandschaft eingefressen. 

Keiner der beiden Kandidaten des TV-Duells hat sich aus dem Wettbewerb der Unanständigkeit mit dem Argument verabschiedet, daß unser Land nicht weniger Migration braucht – sondern viel mehr. „Migration betrifft nicht nur die offene Gesellschaft, sondern auch die Integration von ausländischen Mitmenschen und Fachkräften. Ohne deutlich mehr Arbeitskräfte kann die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität in Deutschland nicht nachhaltig gesichert werden.“ Das sagt uns Marcel Fratzscher, Präsident des DIW, des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, und Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, in seiner Kolumne in der ZEIT Online. Von 2001 bis 2012 war Fratzscher für die Europäische Zentralbank tätig, zuletzt als Leiter der Abteilung International Policy Analysis.

Der Ampel-Regierung wirft Fratzscher einen „gefährlichen Kurswechsel“ vor, mit Leistungskürzungen und Restriktionen für Geflüchtete und mehr Abschiebungen. Der Kandidat Merz hat jüngst die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Falle von Straftaten gefordert und will die Reform der Staatsbürgerschaft der Ampelregierung rückgängig machen, durch die die Einbürgerung beschleunigt und die Hürden für eine duale Staatsbürgerschaft abgebaut werden. Von der unsäglichen AfD und ihrem unappetitlichen Remigrationsgeifer will ich hier nicht schreiben.

„Mehr Migration führt nicht zu mehr Kriminalität. Wir werden alle gerade gehörig verarscht.“ Das schreibt Thomas Laschyk im Blog der Volksverpetzer unter dem Titel „Die wahren Ursachen für Merz’ Desaster“. Deutschland war zwischen 2017 und 2022 so sicher wie nie zuvor. Selbst die Gewaltkriminalität lag auf einem historischen Tiefpunkt. „Auch 2023 gab es nicht mehr Kriminalität als 2010. (…) 1991 gab es 1,6 Morde pro 100.000 Einwohner. 2023 waren es halb so viele: 0,8. Ja, genau die Jahre, nachdem über eine Million Menschen zu uns geflohen waren, 2015 und 2016, waren die sichersten Jahre seit der Wiedervereinigung. In Sachsen liegt die Mordrate bei 0,7 – bei nur 8,5 % Menschen mit Migrationshintergrund. Rheinland-Pfalz hat 28 % und kommt trotzdem auf eine niedrigere Mordrate von gerade einmal 0,4. Wie passt das zusammen? Und in Sachsen, genau dort, wo so viele AfD wählen, angeblich wegen der Migranten, leben kaum welche.” Soweit Thomas Laschyk.

Deutschland hat einen riesigen Arbeitskräftemangel, so der Wirtschaftsprofessor in seiner Zeit-Kolumne. Es gibt knapp 1,7 Millionen offene Stellen. In den nächsten zehn Jahren werden fünf Millionen Ältere mehr in Rente gehen, als junge Menschen nachkommen. Das Land, die Wirtschaft braucht mehr als nur Hochqualifizierte aus dem Ausland. Gerade in vielen systemrelevanten Berufen der Grundversorgung arbeiten Menschen mit Migrationsgeschichte und sichern die Daseinsvorsorge. Die Bundesagentur für Arbeit hält über das nächste Jahrzehnt eine Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften aus dem Ausland für erforderlich. Pro Jahr.

Migration stabilisiert unsere Rentenkasse – denn dadurch wird Deutschland im Schnitt jünger, arbeitet mehr und bremst den demografischen Wandel. Auch die meisten Schutzsuchenden von 2015 arbeiten und zahlen in die Sozialsysteme ein. Die größten Sozialausgaben sind die für die Rente, Migranten sind aber in der Regel jung, arbeiten und zahlen ein. Migranten zahlen im Schnitt mehr in die Sozialkassen, als sie bekommen. Niemand redet darüber. Die meisten arbeiten hier, sind unsere Nachbarn, Freunde, Steuerzahler.

Deutschland verfügt über ein riesiges ungenutztes Potenzial: Bei der Erwerbstätigkeit von Ausländern und Ausländerinnen, insbesondere derer, die bereits in Deutschland leben. Im Juni 2024 befanden sich rund 3,3 Millionen Schutzsuchende in Deutschland. Obwohl die Integration in den Arbeitsmarkt besser gelingt als erwartet, besteht nach wie vor großes Potenzial. Viele dieser Menschen befinden sich auch Jahre nach der Ankunft noch nicht in Beschäftigung. Dies gilt insbesondere für geflüchtete Frauen. Häufig ist es auch der Fall, dass Menschen in Jobs tätig sind, die deutlich weniger Qualifikationen erfordern, als viele der ausländischen Mitmenschen mitbringen. „Der Wirtschaftsboom der 2010er-Jahre wäre ohne die Zuwanderung von innerhalb und außerhalb Europas nicht möglich gewesen. Ohne diese Zuwanderung hätten wir heute keinen neuen Höchststand von 46,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland, sondern seit vielen Jahren bereits schrumpfende Beschäftigtenzahlen. Mehr als 80 Prozent des Beschäftigungsaufbaus der vergangenen fünf Jahre gehen auf ausländische Arbeitskräfte zurück.“

Die Integration Geflüchteter in unserem Land ist eine Erfolgsgeschichte. Die Beschäftigungsquote bei Männern aus Syrien beträgt acht Jahre nach ihrer Ankunft knapp 90 Prozent – eine höhere Quote als die Erwerbstätigkeit unter deutschen Männern. Ausländische Mitmenschen sind zudem häufiger selbstständig tätig. Vor allem in kritischen Jobs der Daseinsvorsorge, wie der Pflege und Gesundheit, wären viele Leistungen ohne die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte heute nicht möglich.

Die vielen Hürden für die Erwerbstätigkeit müssen weg. Europäische Nachbarländer sind deutlich besser darin, ukrainische Geflüchtete schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dazu gehören mehr Schnelligkeit und Flexibilität bei der Anerkennung von Qualifikationen. Denn vielen Menschen aus dem Ausland und auch der deutschen Wirtschaft ist nicht geholfen, wenn ausländische Arbeitskräfte nicht in einem Beruf arbeiten können, der ihrer Ausbildung entspricht.

Soziale Kontakte und gute Sprachkenntnisse sind essenziell für den Arbeitsmarkt. Dies erfordert eine zügigere Unterbringung in privaten Unterkünften und einen schnelleren Zugang zu sozialen Leistungen, etwa im Gesundheitswesen. Maßnahmen wie die Einführung einer Bezahlkarte bewirken allenfalls die weitere Stigmatisierung von Geflüchteten. 2022 haben nur sieben Prozent der Geflüchteten Geld ins Ausland überwiesen, was ein zentrales Argument für die Einführung einer Bezahlkarte fraglich erscheinen lässt. 

OECD-Studien haben ergeben, dass Deutschland insbesondere bei hoch qualifizierten Fachkräften im Ausland kein attraktives Zielland ist. Viele gute und gut bezahlte Arbeitsplätze, aber eine im internationalen Vergleich schlechte Willkommenskultur.  Das ist auch Deutschland heutzutage. „Vor allem hoch qualifizierte Fachkräfte in Deutschland geben an, dass eine überbordende Bürokratie, Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche, Sprachbarrieren und eine geringe Offenheit Deutscher gegenüber Ausländerinnen und Ausländern konkrete und ungewöhnlich hohe Hürden für eine erfolgreiche Integration sind“, so Marcel Fratzscher in seiner Kolumne. Vor allem relativ gering qualifizierte Geflüchtete würden weiterhin nach Deutschland kommen, um hier entsprechend den EU-Asylbestimmungen Schutz zu suchen, hoch qualifizierte Fachkräfte dagegen weiterhin einen großen Bogen um Deutschland machen und in andere, attraktivere Länder gehen.

98,7 % aller anerkannten Schutzsuchenden fallen nie strafrechtlich auf. Deutsche unter 30 sind rein statistisch viel krimineller als anerkannte Schutzsuchende. Migration führt nicht zu mehr Kriminalität. Aber über Jahre haben BILD und AfD unsere Köpfe vergiftet. Studien zeigen, dass die Medien fast nur noch negativ über Migration sprechen, und fast nur noch über die Minderheit (!) der Straftaten, die von Migranten begangen werden. Natürlich begehen die absolut meisten Straftaten und Gewalttaten die Deutschen selbst. Wir werden hier gerade kollektiv gehirngewaschen.

Beinahe jeder im Land hält sich an Recht und Gesetz. Deutschland erlebt eine der sichersten Phasen der Geschichte. Es kommen auch kaum noch Schutzsuchende, wir schieben auch schon so viele ab wie rechtlich möglich, und die Grenzen werden bereits kontrolliert. Nicht, dass das nicht auch alles absolut nichts an unserer Sicherheit ändert, außer, dass es Rechtsextremen in die Hände spielt. 2024 stieg die Zahl der rechtsextremen Straftaten auf den Höchststand.

Die neue Bundesregierung sollte sich konkret verpflichten, während ihrer Regierungszeit bis 2029 insgesamt 1,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte erfolgreich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. 400.000 Menschen pro Jahr. Dies wäre ein größerer Beitrag für die deutsche Wirtschaft als die meisten Wirtschaftsprogramme oder Steuersenkungen der letzten Jahre oder der im Galopp der Überbietungswettbewerbe geschriebenen und unnützen oder nicht rechtssicheren Sicherheitsgesetzespakete.

Kommentar (1) Schreibe einen Kommentar

    • Heidbüchel
    • 10.02.25, 18:56 Uhr

    Ich habe mir das Fernsehduell nicht angesehen weil es dort nur um dieses eine Thema ging…so dem Bericht zu entnehmen.
    Ich denke wir haben größere Probleme die in den Vordergrund gerückt werden müssen, wie Schule, Digitalisierung, bezahlbare Wohnungen und noch einiges mehr.

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