Musikwissenschaftler Thomas Erlach
über den Komponisten Giacomo Puccini
VON UWE BLASS
Giacomo Puccini starb vor 100 Jahren in Brüssel. Mit welchen Kompositionen ging er in die Musikgeschichte ein?
Erlach: Puccini ist heutzutage praktisch nur als Opernkomponist bekannt, vor allem durch seine besonders populären Bühnenwerke wie Tosca, La Bohème oder Madame Butterfly. Dass er daneben auch Orchesterwerke, Kammermusik, Chorwerke und Lieder komponiert hat, interessiert eher Musikwissenschaftler und besonders begeisterte Fans.
Er gilt als Vertreter des Verismo. Was bedeutet das?
Erlach: Der Begriff Verismo bezeichnet ein Streben nach größerer Wahrhaftigkeit auf der Opernbühne. Vor allem italienische Komponisten hatten ab 1890 eine Tendenz, die Gefühlswelt der einfachen Menschen, des „Volkes“, direkt und drastisch auf der Bühne darzustellen. Das bedeutete eine Abkehr von Wagner‘schen tragischen Helden und Göttern ebenso wie von Verdis Operngestalten aus der gehobenen Gesellschaft. In einer der ersten veristischen Opern, Der Bajazzo von Ruggero Leoncavallo, wird diese Konzeption zu Beginn von einer singenden Prolog-Figur erläutert, die erklärt, nun ein Bild des wirklichen Lebens zeichnen zu wollen, mit Menschen „aus Fleisch und Blut“, die dem Publikum Identifikation ermöglichen. Puccini ist dieser Richtung überwiegend gefolgt. In seinen Opern greifen beispielsweise keine übermenschlichen Mächte in die Handlung ein. Er verarbeitet durchaus Stoffe aus der Vergangenheit (z. B. in Tosca), interessiert sich aber vor allem für ihre Beziehungsaspekte, also für die emotionale Seite der Geschichte, die allen Menschen zugänglich ist.
Bei der Uraufführung von „La Bohème“ am 1. Februar 1896 unter der Leitung von Arturo Toscanini gab es Pfiffe und Buhrufe. Die Presse schrieb u.a.: „So wird sie auch keine bedeutende Spur in der Operngeschichte hinterlassen.“ Knapp zwei Monate später hingegen feierte die gleiche Oper in Palermo einen Riesenerfolg. Wie ist das zu erklären?
Erlach: Die Reaktionen bei der Uraufführung waren uneinheitlich. Puccini wurde nach jedem Akt mehrmals vor den Vorhang gerufen, das Stück fiel also nicht durch, aber es war auch kein spektakulärer Spontanerfolg. Möglicherweise waren die Leute irritiert von dieser neuen Art von Musiktheater. Die Handlung ist nicht ganz stringent, dem Publikum wird eher eine Reihung verschiedener Szenen vorgestellt, die zudem mit dem Tod Mimis an Schwindsucht, also Tuberkulose, sehr traurig endet. Auch die Klangsprache ist neuartig – das ganze Stück ist in einer Art „Konversationston“ gehalten, die Stimmungen und musikalischen Motive wechseln häufig und das Tempo der Dialoge ist oft relativ hoch. Die Aufnahme des Stücks beim Publikum verbesserte sich dann schnell, aber Puccini hat die Uraufführung auch später noch als Misserfolg angesehen.
Heute gilt „La Bohème“ als sein Meisterwerk. Woran macht man das fest?
Erlach: Da ist zunächst die Handlung, die in einer WG von vier jungen Künstlern in einer Dachgeschosswohnung in Paris beginnt. Sie sind zwar arm, aber selbstbestimmt, fühlen sich frei und glücklich, auch wenn mangels Brennholz ein frisch geschriebenes Drama in den Ofen wandern muss. Problemlos werfen sie ihren Vermieter aus der Wohnung, ohne die Miete zu zahlen, und Rodolfo findet im eigenen Haus wie von selbst eine Partnerin, mit der er sofort ein wunderschönes Liebesduett anstimmt – das weckt Sehnsüchte in einer von vielen Zwängen und von materiellen Gütern bestimmten Gesellschaft. Die weitere Entwicklung im Stück ist dann von Beziehungskonflikten geprägt, die jeder kennt, sowie am Ende vom tragischen Tod Mimis, der angesichts der Treue ihrer Freunde vielen im Publikum die Tränen in die Augen treibt. Puccini zeigt auf der Bühne nur einzelne Situationen, während er die logischen Zusammenhänge in die Pausen zwischen den Akten verlagert, d.h. weglässt. Dadurch konnte er sich musikalisch auf das konzentrieren, was er am besten konnte: zwischenmenschliche Situationen vertonen. Rodolfo stellt sich Mimi bei der ersten Begegnung mit einer Melodie vor, die sie nach ihrer individuellen, anders klingenden Antwort anschließend übernimmt – so entsteht das Liebesduett, mit dem der erste Akt schließt. Der zweite Akt spielt an Heiligabend im Quartier Latin, es herrscht dort ein buntes Treiben, das Puccini mit einer Art musikalischer Collage darstellt. Und sein Orchester bietet schillernde Klangfarben in bunter Abwechslung. Traditionelle Arien gibt es stellenweise auch, aber geschickt eingewoben in die Handlung.
Puccini wurde vor allem durch den Verleger Giulio Ricordi aufgebaut, der aber auch auf dessen Arbeit Einfluss nehmen wollte. So versuchte er z. B. in einem Brief ein entscheidendes Duett zwischen Tosca und Cavaradossi im dritten Akt der Oper Tosca zu verhindern, weil er „verheerende Folgen“ befürchtete. Was besorgte ihn denn so sehr?
Erlach: An und für sich hatte Puccini ein gutes Verhältnis zu seinem Verleger, der ihn als „Hauskomponisten“ finanzierte. Ricordi glaubte hier allerdings zu bemerken, dass Puccini für dieses Duett Musik verwendete, die er für eine frühere Oper, Edgar, komponiert, aber dann doch gestrichen hat. Er hielt dieses Vorgehen Puccinis für unwürdig und teilte ihm das brieflich in ziemlich schroffer Form mit. Puccini war davon völlig überrascht und antwortete am gleichen Tag, dass er anderer Ansicht sei. Die Übernahme werde niemand bemerken, diese Vorgehensweise betrachtete er als „arbeitssparendes Prinzip“. Zudem betonte er, dass dieses Duett einen „fragmentarischen Charakter“ tragen müsse, weil es kein gewöhnliches Liebesduett sei. Die Szene spielt sich nämlich kurz vor der Hinrichtung Cavaradossis ab, von der er glaubt, dass sie nur zum Schein erfolgt, was aber nicht der Fall ist – eine ziemlich verrückte Konstellation also. Damit war die Sache geklärt und das Duett blieb stehen.
Die Uraufführung 1900 in Rom wurde ein großer Erfolg, obwohl sie kurzzeitig unterbrochen wurde. Warum?
Erlach: Das Publikum war an diesem Abend sehr nervös, weil es im Theater eine Bombendrohung gab, die sich aber als gegenstandslos herausstellte. Die Königin und mehrere Minister waren im Saal anwesend und es gab einen riesigen Besucherandrang auf die ausverkaufte Vorstellung. Da es dabei sehr lautstark zuging, ließ der Dirigent Leopoldo Mungone die Vorstellung vorübergehend unterbrechen, machte aber weiter, als sich alle beruhigt hatten.
1904 fand die Uraufführung einer weiteren, sehr bekannten Oper „Madame Butterfly“ statt und wurde zum Desaster. Was war passiert?
Erlach: Das war Puccinis größter künstlerischer Misserfolg im Leben. Über die genauen Gründe für die Ablehnung der Butterfly bei der Uraufführung lässt sich nur spekulieren. Das Publikum der Mailänder Skala galt damals als konservativ und besonders kritisch. Nach Bohème und Tosca wurde das Thema der Oper möglicherweise als zu exotisch, zu weit entfernt von der Lebensrealität empfunden: Ein amerikanischer Offizier heiratet bei einem Einsatz in Japan eine einheimische Geisha, Cho-Cho-San, genannt Butterfly, lässt sie dann aber mit dem gemeinsamen Kind zurück, um in Amerika später nochmals zu heiraten, anschließend zurückzukommen und das Kind mitzunehmen, woraufhin Cho-Cho-San sich in ritueller Form selbst tötet. In einer Zeit des Kolonialismus konnte das als Kritik wirken und provozieren. Ferner hatte diese erste Fassung der Butterfly nur zwei Akte, wobei vor allem der zweite sehr lang war. Die Tenorpartie ist zudem nicht so dominant wie sonst bei Puccini, und das Erscheinen des Kindes auf der Bühne wurde als anstößig empfunden.
Warum wurde sie dennoch zu einer seiner meistgespielten Opern?
Erlach: Sowohl der Exotismus wie die Handlung im Themenkreis des kulturellen Imperialismus erwiesen sich letztlich als interessant, auch für spätere Generationen. Dabei sind die ostasiatisch klingenden Elemente in der Musik wie z. B. Pentatonik (Als Pentatonik oder Fünfton-Musik bezeichnet man Tonleitern und Tonsysteme, die aus fünf verschiedenen Tönen bestehen, Anm. d. Red.) eher ein schmückender Zusatz im Sinne eines Lokalkolorits. Hinzu kommt, dass Puccini die Oper sofort und dann noch mehrmals grundlegend umarbeitete. So wurde der lange zweite Akt geteilt. Inzwischen geht man an den Theatern allerdings dazu über, wieder die ursprüngliche Fassung zu spielen, weil sie die persönliche Tragödie der Cho-Cho-San konzentrierter zum Ausdruck bringt.
Im Unterschied zu Giuseppe Verdi oder Richard Wagner dominieren bei Puccini Frauen im Werktitel. Wie kommt das?
Erlach: Auch wenn es schwierig ist, Parallelen zwischen Kunstwerken und Künstlerbiographien zu ziehen: Man könnte meinen, dass Puccini Frauen mochte. Die Frauenfiguren in seinen Opern sind sehr differenziert gezeichnet und stehen dadurch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch wenn es bei den Handlungsmustern seiner Oper große Ähnlichkeiten gibt, ist doch jede dieser Frauen individuell gestaltet. Im Unterschied zu den (bei Puccini stets männlichen) Bösewichten sind die weiblichen Hauptfiguren in der Regel anfangs von einer schlichten Herzensreinheit, wachsen dann aber im Laufe der Handlung zu enormer charakterlicher Größe – das gilt für Mimi, für Tosca, für Minnie (in Fanciulla del West), für Butterfly, für Suor Angelica – nicht jedoch für Turandot, die aufgrund ihrer Härte (sie lässt alle an ihr interessierten Männer hinrichten, die ihre Rätsel nicht lösen) wahrlich keine Sympathieträgerin ist.
Puccini war ein Lebemann, liebte schnelle Fahrzeuge, wohnte zwischenzeitlich in einem Leuchtturm und qualmte wie ein Schlot. Dass er seine Langzeitgeliebte Elvira, mit der er bereits einen Sohn hatte, schließlich doch heiratete, behagte seinem Verleger gar nicht und er sagte über sie: „Sie saugt ihm Geist, Blut und Leben aus.“ Wie kam er darauf?
Erlach: Puccini war das, was ein Psychologe einmal einen „Krypto-Single“ genannt hat. Er war zwar mit Elvira verheiratet, lebte aber gleichzeitig so, als ob er allein wäre. Das galt sowohl für seine Arbeit wie für sein Privatleben – er war ständig unterwegs, traf Freunde, war viel allein, hatte zahlreiche Affären, auch langjährige, mit anderen Frauen. Andererseits hing er zeitlebens sehr an Elvira, über deren Schwächen und Launen er sich gleichzeitig ständig beklagte. Da er zu Selbstzweifeln bis hin zu Depressionen neigte, kam für ihn eine Trennung niemals in Betracht. Man kann sich vorstellen, dass dies auch Energie absorbierte, die er nach Auffassung von Ricordi besser in seine Arbeit investiert hätte.
Welche Oper von Puccini beeindruckt Sie denn am meisten?
Erlach: Ich mag besonders die Stücke, die nicht so häufig gespielt werden. Sehr interessant finde ich den dreiteiligen Zyklus Il trittico, der 1918 uraufgeführt wurde. Die drei kurzen, einaktigen Stücke (Il tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi) haben inhaltlich wenig miteinander zu tun und gehören auch verschiedenen Genres an, aber die Zusammenstellung ist reizvoll und zeigt eine damals sehr innovative Konzeption, die z. B. auch Paul Hindemith 1921 zu einer ähnlichen Komposition von drei Einaktern inspirierte.
Die Klangsprache ist hier viel moderner als z. B. in Bohème, wo das Orchester häufig die Melodien der Sänger verdoppelt und vieles auf Eingängigkeit ausgelegt ist.
Auch Turandot fasziniert mich immer wieder wegen des herben Sujets, der Widerständigkeit der Figuren und der stellenweise moderneren Klangsprache. Weiterhin finde ich (als Operetten-Fan) La Rondine (die Schwalbe) sehr ansprechend, ein leider sehr selten zu hörendes Stück, das 1917 uraufgeführt wurde, und sich an der Grenze zwischen Oper und Operette bewegt. Man hört, dass Puccini und Franz Lehár sich gekannt und geschätzt haben, aber dass Puccini eben doch ein Opernkomponist war.
Prof. Dr. Thomas Erlach ist seit 2014 Universitätsprofessor für Didaktik der Musik an der Bergischen Universität.