Rede des Bundespräsidenten Steinmeier in Kandanos/Griechenland am 31. Oktober 2024
Bundespräsident Steinmeier hat die Menschen im griechischen Kandanos gestern im Namen Deutschlands um Vergebung für die Verbrechen der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs gebeten. “Wir können das Leid nicht ungeschehen machen. Wir können es wohl niemals aufrechnen. Aber wir müssen die Erinnerung daran wachhalten, damit nicht wieder geschieht, was einmal geschehen ist”, sagte er bei einer Gedenkfeier.
Hier die Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut:
Die Fotos in der Ausstellung, die wir eben gesehen haben, vermitteln eine Ahnung von dem, was an diesem Ort stattgefunden hat, aber die ganze Dimension des Grauens können Bilder und Fotos nicht festhalten. Und doch: Schon wer durch diese Ausstellung hier im Rathaus geht, dem fallen anschließend die Worte schwer. Unerträglich ist die Vorstellung über das wahre Ausmaß der Barbarei. Fassungslos macht das Leid der Angehörigen. Entsetzt bin ich über das, was – in meiner Sprache – auf den von der Wehrmacht aufgestellten Schildern steht. Und Scham erfüllt mich – zeigen diese Schilder doch, dass die deutsche Wehrmacht sich auch noch im Recht sah, den Ort so zu zerstören, dass er niemals wieder aufgebaut werden könne. Hier haben die Täter selbst dokumentiert, wie schamlos und verbrecherisch Deutschlands Eroberungs-, Besatzungs- und Vernichtungskrieg war.
Es ist ein schwerer Weg, als deutscher Bundespräsident an diesen Ort zu kommen und zu reden. Gleichzeitig stimmt auch: Ich kann nicht hier auf Kreta sein, ohne diesen Ort deutscher Scham zu besuchen. Ganz besonders danken möchte ich Ihnen, den Überlebenden und Angehörigen der Opfer all der Orte, die damals von deutschen Soldaten angegriffen und zerstört wurden. Danke dafür, dass Sie hier sind, danke dafür, dass ich hier sein darf. Ich weiß, in Ihren Familien lebt das Leid, lebt der Schmerz fort. Und doch haben Sie uns die Hand zur Versöhnung gereicht, und dafür bin ich Ihnen dankbar.
Kandanos gehörte zu den ersten kretischen Dörfern, die deutsche Soldaten, Soldaten der Wehrmacht, im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichmachten. Die 3. Kompanie des Kradschützenbataillons 55, ein Zug Fallschirmjäger und zwei Gruppen der Gebirgspioniere begingen furchtbare, grausame Verbrechen. Sie brannten die Häuser nieder. Sie töteten das Vieh. Sie erschossen alle Dorfbewohner, die sie antrafen, vor allem Frauen und alte Menschen. Es entkam nur, wer zufällig nicht im Dorf war oder gerade noch rechtzeitig fliehen konnte.
Einen Tag vorher hatten die deutschen Soldaten bereits in Kondomari und Alikianos gewütet. Dutzende Orte kamen hinzu: Kakopetros, Floria, Anogia und Viannos – ich kann hier nur einige stellvertretend für viele andere nennen. Allein auf Kreta ermordeten Deutsche im Zweiten Weltkrieg tausende Zivilisten. Alte Menschen. Geistliche. Frauen und Männer. Kinder und Babys. Und wir können heute nicht gedenken, ohne an die Jüdinnen und Juden Kretas zu erinnern. Sie wurden alle deportiert. Die Brutalität, die Grausamkeit, die Menschenverachtung der deutschen Besatzer, sie lässt mir heute noch den Atem stocken.
In ganz Europa gibt es solche Orte, Orte, die die Deutschen im Zweiten Weltkrieg aus Rache vernichteten und deren Bewohnerinnen und Bewohner sie ermordeten. Manche dieser Orte sind bekannter. Viele andere Namen sind hingegen in Europa und vor allem in meinem Land in Vergessenheit geraten. Dazu gehören leider auch so viele Orte in Griechenland. Es sind unzählige. Gerade deshalb ist es so wichtig, heute hier zu sein.
Die Wehrmacht übte in diesen Orten brutale Vergeltung. Schon den militärischen Widerstand der Griechen, Briten und deren Verbündeter hatten die Deutschen bei der Besetzung Kretas völlig unterschätzt. Womit sie aber vollends nicht gerechnet hatten, waren der Mut und Widerstandsgeist der Kreter. Die Griechen wissen, mit dem Begriff des Helden sollte man zurückhaltend umgehen. Doch die Frauen und Männer, die hier unter der deutschen Besatzung ihre Heimat verteidigten, das waren Heldinnen und Helden!
Die Deutschen reagierten auf diesen unerwarteten Widerstand erbarmungslos. Die Soldaten konnten sich sehr sicher fühlen, sich für diese Verbrechen nicht verantworten zu müssen. Denn ihr Befehlshaber, Generalleutnant Kurt Student, hatte diese Maßnahmen angeordnet. Er forderte Strafmaßnahmen gegen die Bevölkerung und wies ausdrücklich darauf hin, dass die Truppe unter Beiseitelassung aller Formalien und unter bewußter Ausschaltung von besonderen Gerichten mit äußerster Härte bestrafen solle. Seine Soldaten setzten diesen Befehl kaltblütig um.
Kurt Student wurde zwar nach dem Krieg von einem britischen Militärgericht in Lüneburg verurteilt – aber ausschließlich wegen der Verbrechen an britischen Kriegsgefangenen. Wir wissen heute: Er kam vorzeitig frei und sollte dann noch viele Jahre unbehelligt in der Bundesrepublik leben. Für die Verbrechen an der griechischen Zivilbevölkerung wurde er nie zur Rechenschaft gezogen.
Wenn ich heute hier spreche, muss ich auch über dieses beschämende Kapitel des Umgangs mit einem NS-Kriegsverbrecher sprechen. Es ist die zweite Schuld, die Deutschland auf sich geladen hat. Auch sie beschämt mich.
Και γι΄ αυτό θα ήθελα σήμερα να ζητήσω συγχώρεση στο όνομα της Γερμανίας. [Ich möchte Sie heute im Namen Deutschlands um Vergebung bitten.]
Ich bitte Sie, die Überlebenden und Nachfahren, um Vergebung für die schweren Verbrechen, die Deutsche hier verübt haben! Ich bitte um Vergebung dafür, dass mein Land über Jahrzehnte die Ahndung der Verbrechen verschleppt hat. Dass es nach dem Krieg zunächst weggesehen und geschwiegen hat.
Wir können das Leid nicht ungeschehen machen. Wir können es wohl niemals ganz aufrechnen. Aber wir müssen die Erinnerung daran wachhalten, damit nicht wieder geschieht, was einmal geschehen ist. Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft. Keine Zukunft miteinander und in Frieden. Deshalb ist es so wichtig, dass wir heute gemeinsam der Verbrechen von damals gedenken. Und dass wir die Erinnerung weitergeben an die nächsten Generationen.
Ich wünsche mir, dass wir die Kraft finden, diese Verantwortung gemeinsam anzunehmen. Ja, gerade weil wir zu einzelnen Fragen auch unterschiedliche Positionen haben. Umso mehr brauchen wir den Einsatz, den Willen, die Ideen, um ernsthaft und vertrauensvoll an Brücken zueinander zu arbeiten.
Der Deutsch-Griechische Zukunftsfonds arbeitet seit 2014 genau daran, an einer solchen gemeinsamen Erinnerungskultur und damit an einer gemeinsamen Zukunft.
Aus diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte erwächst unsere Verantwortung. Die Verantwortung, für Freiheit und Würde eines jeden Menschen einzutreten. Und die Verantwortung, für die Demokratie einzutreten. Denn auf diesen Werten gründet unser gemeinsames Europa. Es sind Werte und Errungenschaften, die wir dem antiken Griechenland zu verdanken haben. Wo, wenn nicht hier, wäre der richtige Ort, um an sie zu erinnern? Unsere beiden Länder wissen, dass Demokratie, wenn sie einmal errungen ist, nicht schon deshalb garantiert ist. Wir wissen, dass wir sie schützen und verteidigen müssen – umso mehr heute, wenn diese Demokratie in vielen Ländern der Europäischen Union wieder in Frage gestellt wird, wo demokratiefeindliche Kräfte an Zulauf gewinnen, leider auch in meinem Land.
Genau an einem Ort wie diesem, hier in Kandanos, spüren wir: Wir Europäer haben nur dann eine gemeinsame Zukunft, eine Zukunft in Frieden und Freiheit, wenn wir die Demokratie, wenn wir unsere Werte schützen und verteidigen. Diese historische Verantwortung bleibt. Sie kennt keinen Schlussstrich.
In meinem Land, in Deutschland, wissen nur wenige von den Verbrechen der Wehrmacht an der griechischen Zivilbevölkerung und der Ermordung der griechischen Juden im Holocaust. Und nur wenige wissen von der schrecklichen Hungersnot unter deutscher Besatzung. Es ist daher wichtig, dass es seit einigen Jahren das Deutsch-Griechische Jugendwerk gibt. Das schafft nicht nur persönliche Begegnungen und Freundschaften zwischen jungen Deutschen und jungen Griechen. Es trägt auch dazu bei, das Wissen über die Verbrechen der Deutschen weiterzugeben an junge Menschen. Junge Menschen müssen wissen, was geschehen ist, damit es nicht wieder geschieht!
Ich danke Ihnen allen noch einmal von Herzen, dass ich heute hier sein darf. Ich verneige mich in Trauer und Respekt vor den Toten.
Kandanos wurde wieder aufgebaut – trotz des Leids, trotz der Gräuel. Auch das war mutig und, ja, heldenhaft. Kandanos mahnt uns, Frieden und Freiheit in Europa zu wahren. Diese Mahnung bleibt. Sie ist unser Auftrag für unsere gemeinsame Zukunft.