Nedderend

Keine Zukunft ohne Erinnerung: Ein großartiger Roman von Christiane Gibiec über die 1968er-Jahre in der Provinz.

VON MATTHIAS DOHMEN

Was für ein Glück, dass die Autorin sich diese Geschichte von der Seele geschrieben hat. Früher hat man eine solche Story „ergreifend“ genannt, bevor das Adjektiv zur Dutzendware verkam. Aber ein treffenderes Wort fällt dem Rezensenten nicht ein. Wenn sie es nicht schon vorher so gehandhabt hätte, müsste man heute schreiben, dass sie sich in die große Tradition deutscher Erzählerinnen und Erzähler eingereiht hat.

Die Geschichte, die in den Rezensionen von Bernadette Brutscheid für die WZ und Stefan Seitz für die „Rundschau“ als absolut lesenswert charakterisiert worden ist, wird auf dem Umschlagtext gut beschrieben: „1967. Die Protestwelle schwappt mit Rockmusik, Haschisch und freier Liebe auch über die norddeutsche Stadt Oldenburg. Zugleich werden die Fragen nach der Vergangenheit immer drängender: Was haben unsere Eltern im Nationalsozialismus gemacht, was gewusst? Und was wurde aus den Sinti-Familien, die vor 1933 im Stadtteil gelebt haben? Vier Jugendliche, die am und um die Straße Nedderend zuhause sind, suchen Antworten. Ihre Recherchen führen sie zu einem Familiengeheimnis, das tief im Ipweger Moor vergraben liegt, und in die Hölle von Auschwitz.“

Die aus Oldenburg stammende Christiane Gibiec, die zuletzt mit einem Roman über Annette von Droste-Hülshoff hervorgetreten ist, wohnte in den 1950er-Jahren quasi Tür an Tür mit einer Sinti-Familie, ohne es auch nur zu ahnen. Die Erkenntnisse kamen später, auch nachdem sie eine Menge Quellen und Literatur studiert hat, die im Anhang des Buchs wiedergegeben ist, auf dass Menschen, die mehr erfahren wollen, die Titel bei der Hand haben, die sie nutzen können.

„Packend“ wäre auch so ein Epitheton, mit dem sich das Buch charakterisieren ließe. Oder „authentisch“. Der Blick zurück ist gleichzeitig ein Blick nach vorn, hat sich doch der politische und politisierende Teil der Generation mühsam von altem Ballast befreien müssen.

Zum Beispiel der in Deutschland so fürchterlichen Angst vor der Bedrohung aus dem Osten: „Der Russe ist schuld, weiß ich von den Gesprächen zuhause am Abendbrottisch, Gott bewahre uns vor dem Russen“, heißt es auf Seite 58.

Im Roman werde, so steht es in einer kleinen Vorbemerkung, die auch ein Schwarzweißfoto einer Volksschulklasse von 1955 enthält, mehrfach das Wort Zigeuner verwendet, der heute nicht mehr akzeptabel sei, damals jedoch zum vorherrschenden Sprachgebrauch gehörte. Zitiert wird auf dem rückseitigen Cover Christel Schwarz vom Freundeskreis für Sinti und Roma in Oldenburg: „Ein spannender Roman und ein wichtiges Buch, das ein Licht auf die Verbrechen der Nazis an den norddeutschen Sinti wirft.“


Christian Gibiec, Nedderend. Rebellion gegen die NS-Verdrängung – 68er Roman, Lübeck: Rote Katze 2024, ISBN 978–3–910563–10–0, 160 S., 22,00 Euro. www.roterkatzeverlag.dewww.cgibiec.de.

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