Den Beitrag entnehmen wir dem Mediendienst Integration
Das Bundeskriminalamt stellte aktuelle Zahlen zur Kriminalität in Deutschland vor. In der Polizeilichen Kriminalstatistik mit dabei: die Ausländerkriminalität. Im Interview mit Donata Hasselmann ordnet die Kriminologin Gina Wollinger die Zahlen zum Themenfeld Migration und Kriminalität ein.
MEDIENDIENST Integration: Frau Wollinger, das Bundeskriminalamt hat die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) veröffentlicht. Demnach waren 34,4 Prozent der Tatverdächtigen aller Straftaten Ausländer. Das ist ein größerer Prozentsatz als ihr Anteil an der Bevölkerung – der liegt bei rund 15 Prozent. Warum ist das so?
Prof. Dr. Gina Wollinger: Zunächst vorweg: Die Statistik zeigt nicht das tatsächliche Geschehen, sondern zunächst einmal die Tätigkeit der Polizei – also, gegen wen die Polizei Ermittlungen aufgenommen hat. Dazu kommt ein großes Dunkelfeld: alle Straftaten, die der Polizei nicht bekannt werden.
Inwiefern ist das relevant für die Zahlen zur Ausländerkriminalität?
Weil man sich die Frage stellen muss: Was landet am Ende in der PKS, was nicht? Studien haben gezeigt, dass Personen, die als „fremd“ wahrgenommen werden, häufiger angezeigt werden als Personen, die als „deutsch“ wahrgenommen werden. Ein Beispiel in Bezug auf jugendliche Gewaltdelikte: Sind Opfer und Täter deutsch, wird in 10,5 Prozent der Fälle angezeigt, ist das Opfer deutsch und der Täter nichtdeutsch, wird in 17,4 Prozent die Polizei informiert.
Gibt es noch weitere Umstände, die dazu führen, dass manche Straftaten wahrscheinlicher in der PKS landen als andere?
Ja, ein weiterer Umstand sind Tatkontexte. Es gibt bestimmte Kontexte, in denen bei Streitigkeiten eher die Polizei gerufen wird. Ein Beispiel sind Flüchtlingsunterkünfte: Menschen leben hier unter erschwerten Bedingungen auf sehr engem Raum. Nicht nur macht das Streit wahrscheinlicher – sondern es wird auch eher die Polizei gerufen als im privaten Kontext.
Prof. Dr. Gina Rosa Wollinger ist Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören unter anderem Kriminalitätsentwicklung, Migration und Polizei. Prof. Wollinger ist außerdem in der Ausbildung angehender Polizeibeamten tätig und Co-Produzentin des Kriminologie-Podcasts „True Criminology“.
Könnte auch Racial Profiling ein Grund dafür sein, dass Ausländer öfter in der PKS landen, oder ist das zahlenmäßig zu vernachlässigen?
In der Tendenz würde ich es bejahen: Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden. Und dass als „fremd“ wahrgenommene Personen öfter von der Polizei kontrolliert werden als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, haben verschiedene Studien und Befragungen gezeigt. Aber es gibt keine gesicherten Zahlen dazu, in welchem Ausmaß sich das auf die PKS auswirkt.
Zusammengefasst: Es gibt Umstände, die dazu führen, dass Straftaten durch Ausländer öfter in der PKS landen. Dennoch ist die Zahl der Straftaten durch Ausländer im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung in Deutschland ziemlich groß.
Wobei dieses In-Verhältnis-Setzen nicht ganz korrekt ist. Denn nicht alle tatverdächtigen Ausländer haben ihren Wohnsitz in Deutschland. Das heißt, sie gehen zwar in die Zahl der Straftaten durch Ausländer mit ein, aber nicht in die Zahl der Wohnbevölkerung Deutschlands. So werden Straftaten zum Beispiel auch durch Touristen und durch Personen verübt, die extra dafür nach Deutschland einreisen.
Können Sie dazu konkrete Zahlen nennen?
Ich rechne das mal für die PKS des vergangenen Jahres vor: Da waren 37 Prozent der Tatverdächtigen Ausländer. Wenn man diejenigen mit Wohnsitz im Ausland rausnimmt, dann sind wir bei nur noch rund 31 Prozent der Tatverdächtigen. Wenn man auch noch diejenigen rausnimmt, deren Wohnort unbekannt ist, sind es nur noch rund 24 Prozent.
Es gibt also verzerrende Faktoren, was die Statistik anbelangt. Gleichzeitig bleibt auch nach der Rechnung eine, wenn auch weniger starke, überproportionale Repräsentation von ausländischen Tatverdächtigen in der PKS übrig.
Definitiv. Nur dass die Kategorie „Ausländer“ nichts zur Erklärung von hohen oder niedrigen Kriminalitätszahlen beiträgt. Kriminalitätsfördernde Umstände liegen – da ist sich die Forschung einig – in den jeweiligen Lebensumständen begründet: Vor allem Armut und Bildungsteilhabe sind zentrale Faktoren. Ganz konkret hat man das etwa an einer umfassenden Studie zu Gewaltkriminalität von Schülern und Schülerinnen gesehen: Bei allen Schülern waren der sozioökonomische Status, Bildung, Normen und eigenes Gewalterleben die Faktoren, die Kriminalität begünstigten oder verhinderten. Die Herkunft hat keinen Einfluss, wenn man diese Faktoren berücksichtigt.
Und von Armut oder mangelhafter Bildungsteilhabe sind Ausländer oder Migranten und Migrantinnen überproportional stark betroffen.
Genau. Und damit kann man dann ja auch konstruktiv arbeiten: Hier stellen sich Fragen von besseren Integrationsmöglichkeiten und natürlich der bereits wissenschaftlich erwiesenen Benachteiligung von Kindern mit Migrationsgeschichte in Schulen. Es kann auch kulturelle Faktoren geben, zum Beispiel rigidere Männlichkeitsnormen. Hier zeigt die Wissenschaft aber, dass sich die Einstellungen mit den Generationen angleichen.
Sind auch Flucht- und Migrationserfahrungen wie etwa Gewalterlebnisse relevant, oder sind es eher die hiesigen Bedingungen, die Kriminalität befördern?
Grundsätzlich macht es natürlich einen großen Unterschied, was Menschen vorher erlebt haben – auch etwa, ob sie freiwillig oder gezwungenermaßen migriert sind. Dennoch zeigt uns die Wissenschaft: Mit den hiesigen Bedingungen in Deutschland können wir steuern, ob es zu mehr oder weniger Kriminalität kommt. Eine Studie nach den großen Fluchtbewegungen 2015/2016 hat gezeigt: Die Bleibeperspektive von Geflüchteten ist ein entscheidender Faktor für die Frage, ob jemand kriminell wird. Syrer und Syrerinnen zum Beispiel hatten eine sehr gute Bleibeperspektive – für sie war klar, dass sie in Deutschland bleiben dürfen. Dadurch hatten sie Planungssicherheit und konnten sich um ihre Integration, um Spracherwerb und Arbeit kümmern. Diese Planungssicherheit ist die beste Kriminalprävention. Das Gegenteil davon sind Duldungen, in denen die Menschen überhaupt keine existenzielle Sicherheit und Planungsmöglichkeiten haben.
Die Kategorien „Deutsch“ und „Ausländer“ umfassen ja ganz unterschiedliche Lebensrealitäten. „Deutsch“ kann jemand sein, der hierher geflohen ist und kürzlich die Staatsbürgerschaft erworben hat, „Ausländer“ kann sein, wer hier geboren und aufgewachsen ist, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Was sagt also angesichts der Weite dieser Kategorien die Kategorie „Ausländerkriminalität“ in der PKS überhaupt aus?
Nichts. Man versucht hier mit einem Merkmal eine Gruppe zusammenzufassen, bei der es gar keine Homogenität gibt in Bezug auf Lebenserfahrungen und -umstände. Es gibt für das Konstrukt „Ausländer“ kein gemeinsames Merkmal, das relevant wäre für die Kriminalität. Stattdessen schürt es aber ein gewisses Bild von Menschen, die sich auf Grund ihres Status anders verhalten würden. Es suggeriert, dass Kriminalität und Herkunft etwas miteinander zu tun haben.
Wie ist dann „Ausländerkriminalität“ polizeilich oder kriminologisch verwertbar?
Es ist nicht verwertbar. Kriminologisch interessant und verwertbar sind vielmehr die Kategorien: Sozioökonomischer Status, Bildungsteilhabe, welche Motive und Hintergründe hinter kriminellen Aktivtäten stehen.
Zum Schluss: Ausländer und Menschen mit Migrationsgeschichte sind ja nicht nur Täter, sondern auch Opfer von Kriminalität.
Darüber wird viel weniger geschrieben und geforscht. 24,8 Prozent der Opfer von Straftaten sind laut PKS nichtdeutsch, bei einem Anteil von 14,9 Prozent in der Bevölkerung. Die sogenannte Vorurteilskriminalität, also Straftaten etwa aus rassistischen Gründen, sind derzeit auf dem höchsten Stand, der je gemessen wurde.