Den in Kooperation mit Correctiv.lokal erstellten Beitrag von Georg Watzlawek entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Bürgerportal Bergisch Gladbach. Dort finden Sie auch weitere Informationen, Links und Quellen
Eine Recherche von Correctiv und Lokalmedien wie dem Bürgerportal zeigt gravierende Folgen des Personalmangels in Kindertagesstätten auf: Viele Kitas müssen zeitweilig schließen, Erzieher:innen sind überlastet und werden krank, die Kinder leiden. Die Zahlen für den Rheinisch-Bergischen Kreis liegen im NRW-Schnitt, doch offenbar gibt es eine hohe Dunkelziffer. Die Bestandsaufnahme einer Lage, die Correctiv mit „Kitastrophe“ betitelt.
Die Kinderbetreuung leidet nicht nur an zu wenigen Plätzen, sondern viel mehr noch am großen Mangel an Personal und der Überlastung der Kräfte, die (noch) zur Arbeit erscheinen. Das Recherchebüro Correctiv hat sich vorgenommen, gemeinsam mit „Frag den Staat“ und Medien wie dem Bürgerportal für mehr Transparenz zu sorgen: wieviele Kitas melden Überlastungen, was berichten die Erzieher:innen aus ihrem Arbeitsalltag?
Im quantitativen Teil der Recherche hat Correctiv Daten zu den Überlastungsanzeigen der Kitas bei den Landesjugendämtern eingesammelt und aufbereitet. Grundsätzlich müssen Kitas den Aufsichtsbehörden melden, wenn es „Ereignisse oder Entwicklungen“ gibt, die das Kindeswohl gefährden können.
Zum Beispiel wenn nicht mehr genug Mitarbeitende vor Ort sind, um die Sicherheit und das Wohlergehen aller Kinder zu gewährleisten. Wann genau das der Fall ist bleibt allerdings auch in der Handreichung des Landschaftsverbands Rheinland schwammig.
Hintergrund: Correctiv ist ein gemeinwohlorientiertes Medienhaus und Recherchebüro, das über Spenden sowie Zuwendungen von Stiftungen finanziert wird. Über Correctiv.Lokal kooperiert es mit lokalen Medien kooperiert, das Bürgerportal ist seit Anfang an Partner. Mehr Infos auf correctiv.org, Instagram, Facebook,
40 Prozent der Kitas in Rhein-Berg melden Überlastung
Das Ergebnis für den Rheinisch-Bergischen Kreis: Im Kitajahr 2022 / 2023 haben 75 von insgesamt 187 Einrichtungen Meldungen wegen einer Überlastung aufgrund erheblichen Personalmangels abgegeben – das sind 40 Prozent der Kitas im Kreis. Die Daten kommen vom zuständigen LVR-Landesjugendamt Rheinland.
Insgesamt wurden in Rhein-Berg 305 einzelne Meldungen abgegeben, also pro betroffener Kita vier Ereignisse. Eine erste Schlussfolgerung: hier vor Ort sind wenigstens knapp die Hälfte der Kitas von der Personalnot akut betroffen; diese sind es relativ häufig.
Eine Einordnung der Ergebnisse ist nur begrenzt möglich, weil die Trägerstrukturen und Zusammenarbeit mit den Jugendämtern selbst innerhalb von NRW sehr unterschiedlich sind. Correctiv und auch die Landesjugendämter selbst vermuten zudem, dass es eine relativ hohe Dunkelziffer gibt – weil einige Kitas Defizite nicht melden, sondern sich durchmogeln. Die genannten Zahlen sind also Minimumwerte.
Ein Blick auf den benachbarten Rhein-Sieg-Kreis zeigt immerhin, dass dort mit 55 Prozent deutlich mehr Kitas Überlastungsmeldungen abgegeben haben. Der Durchschnitt in NRW liegt – wie in Rhein-Berg – bei rund 40 Prozent.
Daten nur für Bergisch Gladbach liegen nicht vor. Die Stadt unterhält selbst keine Kitas und verweist auf die Träger. Der Jugendamtselternbeirat hatte eine eigene Umfrage gestartet, aber ohne veröffentlichte Ergebnisse abgebrochen.
Wie die Kitas reagieren
Die überlasteten Einrichtungen müssen auch melden, welche Konsequenzen sie gezogen haben. In gut der Hälfte der Fälle in Rhein-Berg (166 von 305) haben die Kitas die Betreuungszeit reduziert, in knapp der Hälfte (126) wurden einzelne Gruppen abgemeldet und nur in drei Fällen wurden Einrichtungen für eine bestimmte Zeit ganz geschlossen.
Zu diesem extremen Schritt hatte zum Beispiel die AWO-Kita Ahornweg greifen müssen, im Herbst war es in der Kita St. Elisabeth in Refrath soweit. Darüber und über einige Teilschließungen hatten wir laufend berichtet (ebenso wie über Kitas, in denen es gut läuft).
Die Last der Erzieher:innen
Um das Bild zu vervollständigen hat Correctiv bundesweit die Beschäftigten in Kitas gebeten, sich in einer Umfrage zu ihrer Arbeitssituation zu äußern. Mehr als 2000 Personen haben das getan, davon 228 in NRW. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, belegen aber einige Befürchtungen:
- 60 Prozent der Befragten berichten von Stress, Druck und Überlastung.
- 52 Prozent berichten, dass sie in ihrem Arbeitsalltag nicht mehr pädagogisch mit den Kindern arbeiten können, sondern sie nur noch verwahren.
- 20 Prozent geben an, dass die erhöhte Arbeitsbelastung für sie gesundheitliche Folgen wie ein Burnout hat.
- 10 Prozent denkt über den Ausstieg aus dem Beruf nach – oder hat schon gekündigt.
Das hat gravierende Folgen für die betreuten Kinder. Über die folgenden Missstände ist in der Umfrage besonders häufig berichtet worden, sagt Correctiv:
Pädagogische Arbeit ist nicht möglich. Die Zeit in der Kita wird zur „Aufbewahrungszeit“. Die Arbeit dreht sich um die Grundbedürfnisse – satt, sauber, sicher. Individuelle frühkindliche Förderung und Bildung sind nicht möglich. Elterngespräche, Ausflüge und Feste können nicht stattfinden.
Kita-Mitarbeitende sind oft über längere Zeit alleine mit einer Gruppe von Kindern. Die Aufsichtspflicht kann teilweise nicht erfüllt werden.
Selbst Grundbedürfnisse (satt, sauber, sicher) nicht erfüllt. Die Kita-Mitarbeitenden können beispielsweise Windeln nicht wechseln, wenn es nötig wäre, oder ein verletztes Kind nicht angemessen versorgen.
Erzieherin, arbeitet mit Kindern unter und ab drei Jahren: „Wir können unseren eigenen beruflichen Werten nicht mehr nachkommen. Wir verwahren die Kinder mehr schlecht als recht. Für die Kinder ist es einfach nicht mehr schön. Die gesundheitliche Belastung für beide Seiten ist extrem.“
Keine inklusive oder integrative Arbeit möglich. Kinder mit Behinderungen oder sonderpädagogischem Förderbedarf können nicht angemessen und gemäß ihres Rechtsanspruches versorgt werden. Sie „laufen mit“ oder können erst gar nicht in der Kita aufgenommen werden.
Stimmen der Kita-Beschäftigten
Einige Personen zitiert Correctiv direkt, hier eine Auswahl von Kita-Beschäftigten aus NRW:
Erzieherin, arbeitet mit Kindern unter und ab drei Jahren: „Kitas werden mehr zur Verwahranstalt aber in der Politik wird mit „Bildungsort Kita“ geworben, was bei dem Personalschlüssel nicht möglich ist und wenn dann noch Personalmangel herrscht, nicht mal die Sicherheit der Kinder (unsere Zukunft) gewährleistet werden kann. Immer mehr Kolleg*innen fallen aus, weil sie nicht mehr können. Viele Kinder werden anspruchsvoller und bräuchten eine engere Betreuung.“
Auszubildende, arbeitet mit Kindern unter und ab drei Jahren, NRW: „Ein Kind sitzt auf der Toilette mehrere Minuten und braucht Hilfe beim Abputzen, aber niemand hat Zeit und das Kind muss zehn Minuten auf die Hilfe warten.“
Erzieherin, arbeitet mit Kindern unter drei Jahren, NRW: „Meine Kollegin war aus dem Gruppenraum, um ein Kind zu wickeln. In der Zeit hat sich ein Kind verletzt, zwei haben gestritten und weitere haben im Nebenraum Wände mit Buntstiften angemalt. Ein Kind lief mir die ganze Zeit hinterher und wollte auf den Arm kuscheln. Es war einfach so frustrierend, den „Laden“ sehenden Auges gegen die Wand zu fahren. Da keine Möglichkeit bestand, ansatzweise die Situation alleine zu bewältigen. Eigentlich ein normaler Morgen unter Zweijährigen. Aber alleine …. keine Chance.“
Warum dieses Thema wichtig ist
Die Kitas in Deutschland stehen vor dem Kollaps. Das Personal kann den Betreuungsbedarf nicht abdecken. Es fehlen laut Prognose der Bertelsmann-Stiftung bereits 385.000 Plätze. Und die vorhandenen Plätze können inzwischen nicht mehr in vollem Umfang angeboten werden.
Das passt nicht zum Versprechen, das die Politik 2013 gegeben hat. Seit zehn Jahren gibt es einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Geburtstag. „Eine gute Kinderbetreuung und frühe Förderung für alle Kinder gehören zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben in Deutschland“, so die damalige Bundesregierung.
Die Realität: Weil Kitas zu wenig Erzieherinnen und Erzieher haben, müssen Einrichtungen ihre Öffnungszeiten verkürzen oder ganze Gruppen schließen. Für die betroffenen Eltern und Kinder hat das unmittelbare Folgen.
Um dem entgegenzuwirken, braucht die Politik eine Datengrundlage. Die Correctiv-Erhebung zeigt, dass einige Bundesländer die Meldungen der Kitas nicht zentral erfassen und eine erhebliche Grauzone besteht, weil Kitas (nicht vollständig) melden. Der fehlende Überblick erschwert die Lösung des Problems.
Was Sie tun können
Correctiv hat über die Analyse hinaus Strategien und Vorschläge entwickelt, wie die Bürger:innen (und nicht nur die Betroffenen) aktiv werden zu können, um einen Beitrag zu leisten, damit sich die Lage verbessern.
Genannt wird zum Beispiel die Ansprache der vor Ort aktiven Politiker:innen, von Stadtrat über Landtag bis zum Bundestag. Man kann die Menschen in seiner Umgebung informieren, durch das Teilen dieses Beitrags oder durch Aushänge.
Auf der Themenseite kitanotstand.de von Correctiv finden sich weitere Möglichkeiten, wie Sie einen Beitrag leisten können. Dort gibt es zum Beispiel Mitmalbilder für Kinder und Plakate, die Sie in Ihrer Nachbarschaft aufhängen können.
Bringen Sie ihre Meinung ein. Über das Kommentarfeld ganz unten.
Noch mehr Lesestoff
Correctiv hat die Ergebnisse der Recherchen in zwei großen Beiträgen zusammengefasst:
Das Bürgerportal hat in den vergangenen zwei Jahren, zum Teil über den Familien-Newsletter GL Familie, intensiv über die lokalen Aspekte des Themas berichtet.