“Angst als Instrument der Macht”

(…) Martin Luther und die Erfindung des Buchdrucks sowie später die Aufklärung bedrohten die katholische Kirche und den Papst enorm, weil sie eine Alternative zum bisherigen Weltbild schufen und die Verbreitung von Wissen, Vernunft und Rationalität es schwerer machte, Menschen zu manipulieren.

(…) Dabei funktionierte die Strategie der Populisten, Ängste zu schüren und zu instrumentalisieren, vor 500 Jahren ähnlich wie heute: Es werden Verallgemeinerungen verbreitet, bei denen Einzelfälle als die Norm dargestellt werden. Durch Verbrechen einzelner Ausländer werden alle Menschen mit Migrationshintergrund unter Generalverdacht gestellt und Zuwanderung generell abgelehnt. Durch den einzelnen Missbrauch bei Sozialleistungen werden alle Beziehenden in Kollektivhaftung genommen und Forderungen nach Leistungskürzungen und harte Sanktionen für alle werden salonfähig.

Die Verbreitung alternativer Fakten ist ein weiteres Instrument der Populisten. Es ist bemerkenswert, wie das Narrativ zum Schutz von Klima und Umwelt in Teilen der Bevölkerung und Teilen des politischen Mainstreams ins Gegenteil verkehrt wurde: Klimaschutz wird von vielen mit dem Verlust von Wohlstand, Lebensstandard und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit gleichgesetzt – nicht mit dessen Schutz. Die Konsequenz ist, dass ein erheblicher Anteil der Menschen den Umstieg auf erneuerbare Energien ablehnt, am Verbrennungsmotor oder der Gasheizung festhalten will und überzeugt ist, dass Klimaschutzmaßnahmen ineffektiv oder unnötig sind.

(…) Teil der Strategie der Populisten ist es, die verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft systematisch gegeneinander auszuspielen. Gerade die AfD hat beachtlichen Erfolg damit, Ängste zu schüren und die eigenen Wählenden – die selbst zu den verletzlichen Gruppen zählen – zu überzeugen, eine Ausgrenzung von noch schwächeren Minderheiten würde ihnen selbst helfen. Viele realisieren nicht, dass eine Kürzung von Sozialleistungen, Steuersenkungen für Unternehmen und Topverdienerinnen oder eine Abschottung von der internationalen Wirtschaft gerade den AfD-Wähler am meisten schaden würden.

(…) Mit Blick auf die USA und die Stärke der AfD springen immer mehr Politikerinnen und Politiker demokratischer Parteien auf den Zug des Populismus auf und machen Teile der AfD-Agenda zu ihrer eigenen: Die Aufweichung von Klimaschutzmaßnahmen bei Heizungen, Verbrennungsmotor oder Abgasnormen, der Versuch der Aushöhlung sozialer Leistungen (bei der Kindergrundsicherung oder beim Bürgergeld), die Ausgrenzung von und Abschottung gegenüber Ausländern und Geflüchteten (siehe die Kehrtwenden bei Grenzkontrollen und europäischer Asylpolitik) und die Schwächung europäischer Institutionen sind vier konkrete Beispiele.

(…) Die Konsequenzen dieser Instrumentalisierung von Ängsten sind katastrophal. Sie führt zu einer Polarisierung der Gesellschaft, die unüberbrückbare Differenzen aufbaut und somit Kompromisse und Lösungen immer schwieriger macht. Der Populismus verschärft den Verteilungskampf, dessen Gewinner unweigerlich die privilegierten Gruppen sind, die Arbeitgebenden gegenüber Beschäftigten, Menschen mit hohen Einkommen, guter Bildung und Mobilität gegenüber Menschen ohne diese Privilegien.

(…) Unternehmen klagen zu Recht über die enorme wirtschaftliche Unsicherheit, die dringend notwendige Investitionen kaum ökonomisch sinnvoll erscheinen lässt. Aber gleichzeitig tragen die mächtigen Wirtschaftslobbyisten selbst zu dieser Unsicherheit bei, indem sie Ängste vor Deindustrialisierung und immanenter Krise schüren. Anstatt eigene Fehler einzuräumen und dafür Verantwortung zu übernehmen, schieben sie die alleinige Verantwortung auf die Politik, die jedoch keines der Probleme allein lösen kann. Auch wenn viele sich zu Recht sorgen (…), sind das Schüren und die Instrumentalisierung von Ängsten und die damit verbundene Polarisierung der Gesellschaft kontraproduktiv. Sie verhindern notwendige Veränderungen, meist mit dem Ziel des eigenen Machterhalts zulasten künftiger Generationen und der verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft. Es gilt, den Populismus zu entlarven sowie konstruktive Lösungen und soziale Akzeptanz für die dringend benötigte Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu finden. Dafür tragen die Vertreter von Wirtschaft und Gesellschaft genauso Verantwortung wie die demokratischen Parteien. Aufklärung und Vertrauen zu schaffen sind schwierige Herausforderungen, aber sie sind unsere einzige Chance, die multiplen Krisen unserer Zeit zu bewältigen.

Marcel Fratzscher, Angst als Instrument der Macht, in: Fratzschers Verteilungsfragen. Die Wirtschaftskolumne von ZEIT ONLINE

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