“Häufig prekär beschäftigt und überqualifiziert“

Den Beitrag entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Mediendienst Integration. Dort finden Sie weitere Quellen, Links und Hinweise

Gerade auf dem Arbeitsmarkt erfahren Menschen aus dem östlichen Europa oft Benachteiligungen. Viele Daten gibt es zum Thema nicht, doch wird immer mehr über antiosteuropäischen Rassismus diskutiert. Ein Gespräch von Andrea Pürckhauer mit der Soziologin Aleksandra Lewicki, was darunter zu verstehen ist und welche Erkenntnisse es gibt.

MEDIENDIENST: Seit der Ausweitung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im letzten Februar hat das Thema antiosteuropäischer Rassismus verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Hält das Interesse an?

Aleksandra Lewicki: Schon davor gab es Aufmerksamkeit für das Thema. Zum Beispiel als während der Reisebeschränkungen in der Covid-19-Pandemie tausende Erntehelfer:innen aus unter anderem Rumänien nach Deutschland eingeflogen wurden, um Spargel zu ernten. In Großbritannien wurde deutlich, dass prekäre Arbeitsbedingungen, etwa in der Essenszubereitung oder in Fleischfabriken, das Ansteckungsrisiko enorm erhöhen. Es gab Diskussionen über schlechte Bezahlung, mangelnden Versicherungsschutz und unangemessene Unterbringung – und dass solche Benachteiligungen System haben. Schon da gab es viel Unmut in den Communities. Dieser wird in den letzten Jahren mehr und offener geäußert.

Im Lagebericht “Rassismus in Deutschland” der Bundesintegrations- und Antirassismusbeauftragten steht, dass es quasi keine Erkenntnisse zu den Ausprägungen von antiosteuropäischem Rassismus gibt.

Es gibt Einsichten aus empirischen Untersuchungen auf dem Arbeitsmarkt oder im Wohlfahrtsstaat: Menschen aus osteuropäischen Ländern sind zwar häufiger in Arbeit, aber besonders häufig prekär beschäftigt und überqualifiziert für die Jobs, die sie ausüben. Und sie sind stärker Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Meine Forschung nimmt dabei vor allem Großbritannien und Deutschland in den Blick. In Großbritannien sind fünfzig Prozent der Personen, die in einem östlichen EU-Mitgliedsland geboren worden sind, überqualifiziert für die Berufe, in denen sie besonders häufig beschäftigt sind – etwa im Versandhandel, in der Reinigung und im Gastgewerbe. In Deutschland sind sie überrepräsentiert in der Zustellungs- und Lagerwirtschaft, im Transport und der Reinigungsbranche – und auch hier häufig überqualifiziert. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass Ihnen der Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen in beiden Ländern erschwert oder verwehrt wird.

Und wo fehlen Daten?

Es fehlen Daten in vielen Bereichen, etwa werden in den klassischen Studien zu Einstellungen die Haltungen gegenüber Menschen aus Osteuropa nicht mit abgefragt. Auch mangelt es an empirischen Einsichten dazu, welche Erfahrungen Menschen in Behörden oder auf dem Wohnungsmarkt machen. Vor allem brauchen wir mehr Forschung zu den strukturellen und institutionellen Faktoren, die dazu führen, dass Menschen etwa auf dem Arbeitsmarkt bestimmte Eignungen zugeschrieben werden oder Ihnen wohlfahrtsstaatliche Leistungen vorenthalten werden – dazu führe ich mit meinen Kollegen aktuell ein Projekt durch.

Wie hängt solche Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt mit Rassismus zusammen?

Bei Rassismus geht es nicht nur um Stereotype, Einstellungen gegenüber einer Gruppe, Übergriffe oder Ablehnungen, die Menschen im Alltag erfahren. Sondern auch darum, wie sich diese strukturell und in Institutionen fortschreiben, etwa mit politischen Initiativen, die Fachkräftemigration gestalten und prekäre Arbeit befördern. Bei der EU-Osterweiterung wurde der Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen EU-weit an die Einkommenshöhe gekoppelt; dabei spielten auch etablierte Vorstellungen von osteuropäischen Staaten und Osteuropäer:innen eine Rolle.

Welche Vorstellungen meinen Sie?

Sowohl historische als auch soziologische Studien zeigen, dass Länder, die im Osten Europas verortet werden, oft als unberührt, ursprünglich und traditionsverbunden wahrgenommen werden. Damit verknüpft ist gleichzeitig die Vorstellung, sie seien zurückgeblieben, korrupt, kriminell, autoritär, mit wenig zivilgesellschaftlichen Strukturen oder kaum einer Tradition demokratischer Kämpfe. Menschen, die aus diesen Ländern nach Deutschland ziehen, werden demzufolge als rückständig, kriminell oder bedürftig gelesen. Das zeigt sich in Witzen über Autodiebstähle, Darstellungen organisierter Banden von Tricksern oder Schmugglern, sowie Zuschreibungen wie “Armutsmigration” oder “Wohlfahrtstourismus”.

DR. ALEKSANDRA LEWICKI forscht und lehrt an der University of Sussex. Sie leitet das Sussex European Institute und ist (Mit)Herausgeberin des Journal for Ethnic and Migration Studies. Ihre Forschungsschwerpunkte sind institutionelle Diskriminierung, Gleichstellungspolitik und politische Mobilisierung.

Unterscheiden sich die Vorstellungen über einzelne Länder?

Teils ja, teils nein. Im Auge des westeuropäischen Betrachters wird “Osteuropa” häufig homogenisiert, etwa als “Ostblock” oder “postsowjetische Pufferzone”. Dabei ist es ein sehr weites und heterogenes Gebiet, das sich von Estland über die baltischen Staaten bis in den Balkan erstreckt, mit vielen unterschiedlichen Sprachen, Traditionen und komplexen historisch-politischen Einflüssen. Natürlich gibt es auch geteilte Erfahrungen, aber eben auch sehr viele Unterschiede. Viele Menschen würden sich selbst nicht als “Osteuropäer” beschreiben. Bei solchen Generalisierungen verbindet sich oft Unwissen mit Mangel an Interesse und einer fehlenden Auseinandersetzung mit diesen geografischen Räumen.

Findet dabei denn nur Abwertung statt?

An negative Zuschreibungen sind auch positive Stereotype gebunden: Wie die des polnischen, hart arbeitenden Klempners in Frankreich und Großbritannien oder der “polnischen Perle” in Deutschland, die als Putzkraft unermüdlich für Sauberkeit sorgt oder die Oma in Selbstaufgabe pflegt. Diese Stereotype suggerieren, Menschen aus Osteuropa seien besonders belastbar und geeignet für Tätigkeiten in der Reinigung, Pflege oder auf dem Bau – unabhängig von der Qualifikation, die sie haben. Untersuchungen zeigen, dass diese Stereotype auch von den Betroffenen selbst übernommen werden, die etwa besonders hart arbeiten und sich davon Aufwertung erhoffen.

Es gibt immer wieder Diskussion darum, ob gegenüber Personen aus Osteuropa von Rassismus gesprochen werden kann, da viele von ihnen weiß sind.

Es gibt eine lange Geschichte der Arbeitsmigration und -ausbeutung, die die Vernichtungspolitik und Arbeitslager der NS-Zeit miteinschließt. Wenn wir über Vorstellungen und Verhältnisse heutzutage sprechen, müssen wir das im Kontext dieser Geschichte sehen. Menschen, die als osteuropäisch gelesen werden, begegnen Abwertungen oder Zuschreibungen nicht erst, wenn sie migriert sind, sondern diese prägen auch die internationalen Beziehungen zu Ländern im östlichen Europa. Deswegen würde ich von Rassialisierung sprechen. Jedoch: Menschen, die als weiß gelesen werden – und das ist bei vielen Menschen mit Bezügen zu Osteuropa der Fall – haben natürlich enorme Privilegien gegenüber Menschen, die als nicht-europäisch rassialisiert sind, etwa als muslimisch oder schwarz, oder als Roma gelesen werden. Ich finde es daher sehr problematisch, wenn solche doch sehr unterschiedlichen Rassismuserfahrungen miteinander verglichen werden.

Wie ließe es sich dann beschreiben?

Wir sprechen hier über eine Abwertung, die innerhalb Europas erfolgt. Menschen wird das Europäisch-Sein ganz oder teilweise abgesprochen, eher nicht das Weißsein. Gleichzeitig wird ihnen die Anpassung an westeuropäische Standards zugetraut – sie können zu vollwertigen Europäern aufsteigen. Daraus ergibt sich eine Ambivalenz: einerseits gelten sie als nicht ganz europäisch, andererseits haben sie im Gegensatz zu anderen Gruppen die Möglichkeit, sich diesen Status hart zu erarbeiten und in der Menge zu verschwinden. Das ist ganz klar ein enormes Privileg. Aber damit gehen aber auch Verluste einher: Personen oder ihre Communities sind nicht so sichtbar, und Traditionen, Bräuche, Sprache oder Geschichte gehen hierbei oft verloren.

Und auch in den Herkunftsländern geht ja viel verloren.

Ja. Hochqualifizierte, junge Personen verlassen ihre Heimat und fehlen dort. Arbeitsmigration hat in osteuropäischen Ländern eine lange Geschichte, sie ist häufig in Familiengeschichten eingeschrieben, oder wird als eine selbstverständliche Lebensoption begriffen. Das macht natürlich etwas mit Familien, sowohl mit den Familienmitgliedern, die ihre Heimat und vertraute Sprache hinter sich lassen, aber auch mit denen, die zurückbleiben. In westeuropäischen Ländern ist Arbeitsmigration längst nicht so selbstverständlich – und wir sprechen zu wenig darüber, warum solche Unterschiede fortbestehen.

Foto von Shadi auf Unsplash

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.