Kann Deutschland das individuelle Asylrecht aussetzen?

Das Interview von Donata Hasselmann mit der Völkerrechtlerin Prof. Dr. Nora Markard entnehmen wir dem Mediendienst Integration. Dort finden Sie weitere Verweise, Links und Quellen

Aktuell wird wieder einmal über eine Obergrenze für Flüchtlinge diskutiert. Ist eine Obergrenze mit dem individuellen Asylrecht vereinbar? Oder müsste Deutschland dafür das individuelle Asylrecht aussetzen – und wenn ja, wie?

MEDIENDIENST: In letzter Zeit wurde wiederholt die Forderung erhoben, eine “Obergrenze” für die Aufnahme von Schutzsuchenden einzuführen. Das würde bedeuten, dass, wenn mehr Schutzsuchende kommen als von der “Obergrenze” vorgesehen, sie keinen Asylantrag in Deutschland stellen können. Dadurch würde Deutschland das sogenannte individuelle Asylrecht abschaffen. Wie soll das funktionieren?

Nora Markard: Deutschland müsste aus vielen internationalen Verträgen austreten. Das wären zum Beispiel die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention.

Könnte Deutschland das einfach tun, aus der Genfer Flüchtlingskonvention austreten?

Ja. Nach Artikel 44 der Genfer Flüchtlingskonvention können Staaten „das Abkommen jederzeit durch eine an den Generalsekretär der Vereinten Nationen zu richtende Mitteilung kündigen“. Sie wird dann ein Jahr später wirksam. Wie gesagt müsste Deutschland aber auch aus zahlreichen anderen Verträgen austreten – und sogar aus der EU!

Deutschland müsste aus der EU austreten, um das Asylrecht abzuschaffen?

Der Kern des individuellen Asylrechts ist das Gebot des Non-Refoulement. Es bedeutet, dass niemand in eine Situation abgeschoben werden darf, wo Verfolgung, Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Das ist ein menschenrechtlicher Standard, der in vielen Verträgen enthalten ist – so eben auch in den Verträgen der Europäischen Union, zum Beispiel in der EU-Grundrechtecharta. In der EU ist er sogar durch zahlreiche Verordnungen und Richtlinien konkretisiert, die in Deutschland im Konfliktfall Vorrang vor dem nationalen Recht haben. Deutschland könnte der Verpflichtung des „Non-Refoulements“ also letztendlich nur entgehen, indem es aus der EU austräte.

Die Verpflichtung des „Non-Refoulements“ bliebe dann aber wegen der anderen internationalen Verträge, an die Deutschland gebunden ist, bestehen. Deutschland müsste auch aus allen anderen austreten, etwa aus der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Genau. Russland hat das ja zuletzt getan. Für einen EU-Mitgliedstaat wie Deutschland wäre ein solcher Austritt allerdings ein großes Problem. Denn die EU-Verträge schreiben die Gewährleistung bestimmter Menschenrechte, inklusive des Asylrechts, vor. Wenn Deutschland also aus diesen Menschenrechtsverträgen austreten würde, würde es auch die EU-Verträge verletzen. Der Rat der EU könnte dann die deutschen Mitgliedschaftsrechte suspendieren. Wir würden uns also auf einer Ebene mit Polen und Ungarn bewegen – nur noch schlimmer, weil dort immerhin formal die Menschenrechte noch gelten.

Sagen wir, Deutschland tritt aus den genannten menschen- und asylrechtlichen Verträgen aus: Dann stünde der Abschaffung des individuellen Asylrechts nichts mehr entgegen?

Doch. Wie bereits erwähnt, ist der Kern des individuellen Asylrechts das Gebot des Non-Refoulement: Dieses Gebot wird auch als Teil des Folterverbots angesehen. Jemanden in eine Situation, wo Folter oder unmenschliche Behandlung droht, abzuschieben, ist ebenso wie die Folter selbst verboten. Das bedeutet dann auch, dass man solche Gefahren im Zweifel vor der Zurückweisung an der Grenze individuell prüfen muss.

Deutschland müsste also auch aus Verträgen, die Folter verbieten, austreten, um das Asylrecht abzuschaffen?

Selbst das würde nicht genügen. Das Folterverbot zählt zum Völkergewohnheitsrecht, es wird sogar als „ius cogens“, also als „zwingendes Völkerrecht“ angesehen. Das Refoulement-Verbot ist davon nach überwiegender Ansicht mit umfasst. Das bedeutet, dass es unabhängig von konkreten völkerrechtlichen Verträgen für alle Staaten gilt und nicht einfach aufgekündigt werden kann.

Wäre es möglich, einfach bestimmte Kontingente an Flüchtlingen aufzunehmen, im Sinne einer Obergrenze?

Das Kontingentmodell kann es immer nur zusätzlich zum individuellen Asylrecht geben, es kann den völkerrechtlich gebotenen Schutz von Menschen an der Grenze nicht ersetzen. Rechtlich kann es also immer nur um die zusätzliche Aufnahme eines Kontingents von Menschen direkt aus dem Ausland gehen, um ihnen den gefährlichen Weg zu ersparen. Für die Auswahl dieser Personen kann man dann Kriterien bestimmen, die man unterschiedlich ausgestalten kann. Man sollte das aber nicht als Alternative zum Asylrecht missverstehen – denn die Personen, die außerhalb des Kontingents kommen, haben weiterhin einen Anspruch auf das „Non-Refoulement“.

Genauso ist es mit einer „Obergrenze“: Wenn nach Erreichen der Obergrenze noch jemand kommt und Anspruch auf Schutz hat, dann ist seine Zurückweisung völkerrechtlich und unionsrechtlich verboten, Obergrenze hin oder her. Mal ganz abgesehen davon, dass das Dublin-System außerdem zwingend eine Zuständigkeitsprüfung vorschreibt. Man kann nicht einfach sagen „wir nicht“, ohne zu klären, wer stattdessen für das Verfahren zuständig sein soll. Das haben wir auch alles schon ausführlich 2016 diskutiert, als Herr Seehofer das propagiert hat.

Warum hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Auffassung durchgesetzt, dass der beste Weg, um Geflüchteten Schutz zu gewähren, das individuelle Asylrecht ist?

Während des Zweiten Weltkriegs standen Jüdinnen und Juden, die vor den Nazis fliehen wollten, vor der Schwierigkeit, dass kaum ein Staat bereit war, sie aufzunehmen. Sie waren diesen Staaten gegenüber völlig rechtlos. Viele von ihnen konnten deswegen Nazideutschland nicht verlassen. 1938 gab es auf Initiative von US-Präsident Roosevelt eine Konferenz in Évian mit Vertretern von 32 Staaten, um eine gemeinsame Aufnahmepolitik auszuhandeln. Die Konferenz scheiterte. Dass wir das Grundrecht auf Asyl 1949 in das Grundgesetz aufgenommen haben, ist eine direkte Reaktion auf diese Taten- und Rechtlosigkeit.

Interview: Donata Hasselmann

Prof. Dr. Nora Markard bekleidet seit Januar 2020 den Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Beitragsfoto © Stephan Röhl, CC BY-SA 2.0

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