Der Zukunft eine Stimme geben
Den nachfolgenden Beitrag von Dr. Albin Nees entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung des Autoren und des Deutschen Familienverbandes (DFV) der Homepage des DFV. Der Autor ist Ehrenpräsident des Deutschen Familienverbandes und Staatssekretär a.D. im sächsischen Sozialministerium.
Über 14 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürger sind vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie nicht volljährig sind. Mit einem Wahlrecht von Geburt an, bei dem Eltern die Stimme stellvertretend für ihr Kind abgeben, solange bis dies die Wahlmündigkeit erreicht, wäre die politische Mitbestimmung der Jugend von Anfang an gegeben. Von Dr. Albin Nees, Ehrenpräsident des Deutschen Familienverbandes (DFV)
VON DR. ALBIN NEES
In den Jahren 2005 und 2009 gab es im Bundestag fraktionsübergreifende Initiativen zur Einführung des Familienwahlrechts. Trotzdem wird diese Forderung noch immer als mittelfristig aussichtslos bewertet. Aber wer die geschichtliche Entwicklung des Wahlrechts kennt, kann nichts anderes erwarten. Wahlrechtsfragen sind Machtfragen. Die Wahlrechtsänderung muss – wie 1919 das Frauenwahlrecht – erkämpft werden. Ursprünglich war das Wahlrecht eine exklusive Angelegenheit. Kaiser und Könige wurden jahrhundertelang durch Kurfürsten gewählt. Erst im 19. Jahrhundert erhielten Grundbesitzer ein Wahlrecht. Ab 1871 gab es das Wahlrecht für Männer ab dem vollendeten 25. Lebensjahr, sofern sie oder ihre Familien nicht auf Fürsorgeleistungen der öffentlichen Hand angewiesen waren.
Was heute selbstverständlich ist, war lange Zeit höchst umstritten. Wir brauchen uns also nicht zu wundern, dass die Einführung des Familienwahlrechts in den Parlamenten nicht auf der aktuellen Agenda steht. Wie bei anderen wichtigen Fragen gibt es auch beim Thema Familienwahlrecht Pro und Contra. Befürworter und Gegner finden sich in jeder politischen Partei und in allen größeren Verbänden. Selbst unter den Verfassungsjuristen gibt es keine einheitliche Meinung. So plädierten Ex-Bundespräsident Roman Herzog und der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof für das Familienwahlrecht. Professor Wolfgang Schreiber, Autor des Kommentars zum Bundeswahlgesetz, und Rudolf Wassermann, ehemaliger Präsident eines Oberlandesgerichtes, sahen darin einen Verfassungsbruch.
Der Deutsche Familienverband hat sich intensiv mit der Thematik befasst. In Kenntnis der Argumente gegen das Familienwahlrecht hat er sich einmütig dafür entschieden, seine schnellstmögliche Einführung zu fordern. Allerdings nennen wir das einzuführende neue Wahlrecht lieber „Wahlrecht von Geburt an“. Eltern sollen keine zusätzlichen Stimmen erhalten. Aber kein Staatsbürger soll ohne Stimme bleiben, auch Kinder nicht. Die Stimme des Kindes wird bis zum Erreichen seiner Wahlmündigkeit stellvertretend von den Eltern abgegeben.
Eltern stellen grundsätzlich lebenswichtige Weichen für ihr Kind
In unserer Rechtsordnung ist es völlig selbstverständlich, dass die Eltern als Personensorgeberechtigte bis zur Volljährigkeit ihres Kindes für das Kind handeln (§ 1626 BGB). Schon bisher entscheiden die Eltern nicht nur die Alltagsfragen zu Ernährung, Kleidung und Wohnung ihrer Kinder. Sie treffen auch andere elementar wichtige Entscheidungen der Erziehung und der Gesundheitsvorsorge. Sie haben sich dabei stets am Wohl des Kindes zu orientieren. Zu denken ist an den Kindergartenbesuch und (trotz bestehender Schulpflicht) an die Wahl der Schulart, an die Entscheidung der Frage, ob und welcher Arzt im Krankheitsfalle aufgesucht wird, oder daran, ob ein Kind getauft und religiös erzogen wird.
Eltern stellen lebenswichtige Weichen für ihr Kind. Sie handeln, wie vom Grundgesetz gefordert, in Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung. Wenn etwa die Großeltern ihrem neugeborenen Enkelkind einige Aktien schenken, wird das Baby Aktionär und ist gemäß Aktiengesetz stimmberechtigt in der Versammlung der Aktionäre. Niemand sieht darin ein Problem, dass die Eltern in Ausübung ihrer Vermögenssorge (§ 1626 BGB) das Stimmrecht des Kindes wahrnehmen. Nicht anders soll es sein bei den Wahlen auf kommunaler Ebene oder den Wahlen zu den Landtagen und zum Bundestag.
Die Forderung nach Einführung des Wahlrechts von Geburt an lässt sich aus dem Demokratieprinzip der Bundesrepublik Deutschland schlüssig begründen. In Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.“ Wer zum Volk gehört, von dem alle Staatsgewalt ausgeht und das diese Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen ausübt, ist unumstritten: Zum Staatsvolk gehören alle Staatsangehörigen. Im Regelfall gehören wir seit unserer Geburt zum Staatsvolk. Die Staatsangehörigkeit kann aber auch durch Einbürgerung erworben werden. Warum also gibt es trotz dieser klaren Rechtslage kein Wahlrecht für Minderjährige?
Es geht darum, der Zukunft eine Stimme zu geben
Weil dieser zentralen Vorschrift des Grundgesetzes (GG) eine andere Verfassungsnorm entgegensteht. Das Wahlrecht von Geburt an kann erst eingeführt werden, wenn Art. 38 Abs. 2 GG geändert ist. Diese Norm lautet: „Wahlberechtigt ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“ Der erste Halbsatz des Art. 38 Abs. 2 GG müsste also wie folgt lauten: „Wahlberechtigt ist jeder Staatsbürger“.
Dann gäbe es auch nicht mehr den offensichtlichen Widerspruch zwischen Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 38 Abs. 2 GG. Nähere Einzelheiten müssten im Wahlgesetz geregelt werden. Dabei böte es sich an, jedem Elternteil pro Kind eine halbe Stimme zu geben. Und wenn zum Beispiel ein Elternteil nicht mehr lebt, der Vater nicht bekannt ist oder er seine Personensorge nicht (mehr) ausübt, dann hat eben die Mutter zwei halbe Stimmen für jedes ihrer Kinder. Im Übrigen könnte auch geregelt werden, dass mit zunehmendem Alter des Kindes dessen Wünsche in die Entscheidung der Eltern einfließen, so wie das bei anderen Entscheidungen (Kauf von Kleidung, Berufswahl) selbstverständlich ist. Ist das alles lediglich eine juristische Spielerei? Keineswegs! Es geht um Politikgestaltung. Es geht darum, der Zukunft eine Stimme zu geben und das Wohl derer verstärkt in den Blick zu nehmen, über deren Lebenschancen die heutigen Verantwortungsträger entscheiden.
Seit über 50 Jahren verzeichnen wir mehr Sterbefälle als Geburten. Im Jahr 2022 ist der Sterbeüberschuss auf 327.461 Menschen angewachsen. Deutschland verliert wegen der viel zu geringen Geburtenrate Jahr für Jahr eine größere Großstadt. Es gibt zu wenig Geburten. Das ist die Ursache für den viel beklagten Fachkräftemangel. Die Erwartung, unsere Bevölkerungsdefizite könnten durch Zuwanderung behoben werden, ist trügerisch. Die Herkunftsländer der Zuwanderer sind ebenfalls auf gut ausgebildete, leistungsfähige und leistungsbereite Menschen angewiesen. Abgesehen von den Problemen, die mit einer extensiven Zuwanderung einhergehen, sollten wir unsere Zukunft nicht auf dem Rücken und nicht auf Kosten anderer Länder planen.
Seit Jahrzehnten lahmende Politik braucht neuen Schwung
Vielmehr brauchen wir eine energische und nachhaltige Familienpolitik im eigenen Land, damit die Leistungsfähigkeit unserer Ökonomie, die Verlässlichkeit der sozialen Sicherung, die Innovationskraft von Wissenschaft und Forschung sowie die Identität unseres kulturellen Erbes erhalten bleiben. Unsere seit Jahrzehnten lahmende Familienpolitik braucht neuen Schwung. Wir sollten die Bereitschaft junger Menschen zur Übernahme von Elternverantwortung stärken. Dazu müssen immaterielle und materielle Anreize geboten werden. Vor allem muss die Leistung der Familie für die Zukunft unseres Landes erkannt sowie ideell und ökonomisch anerkannt werden. Die Familie ist und bleibt der erste und wichtigste Lernort von Eigenverantwortung und Solidarität. Diesen Lernort neu zu aktivieren und zu stärken, erfordert eine langfristig angelegte Politik, eine Politik mit weitem Horizont.
Zusammengefasst: Die Einführung eines Wahlrechts von Geburt an bietet – so der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog – die Chance, die Zukunft unseres Landes zu sichern. Wenn wir diese Chance nutzen und den Familien einen deutlich stärkeren Einfluss auf die Programme und die Praxis der Parteien geben, wären die Aktionen der „Letzten Generation“ überflüssig.