Der Historiker Ewald Grothe über Reichskanzler Gustav Stresemann
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen. Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen. Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
VON UWE BLASS
Am 13. August 1923 wurde Gustav Stresemann Reichskanzler. Wie kam er überhaupt zur Politik?
Grothe: Stresemann war schon sehr früh an Politik interessiert und trat dem Nationalsozialen Verein (NSV) von Friedrich Naumann bei. Er war fasziniert von Naumanns Verknüpfung von nationalen mit sozialen Gedanken. Später ist er allerdings nicht bei der linksliberalen Naumannpartei geblieben, sondern hat sich 1903 den Nationalliberalen angeschlossen. Das hatte auch berufliche Hintergründe. Nach seinem Studium der Nationalökonomie war er bei verschiedenen Verbänden angestellt, u.a. als Syndikus beim Verband sächsischer Industrieller. Er war nach heutigem Verständnis Lobbyist und knüpfte vielfältige Verbindungen in die Politik.
Nach drei Monaten Amtszeit trat er schon zurück. Warum?
Grothe: In der Weimarer Republik haben die Reichsregierungen teilweise sehr kurz bestanden. Das hing damit zusammen, dass, anders als in der alten Bundesrepublik, in der teilweise nur drei bzw. vier Parteien im Bundestag waren, in der Weimarer Republik wirklich eine Vielzahl von Parteien existierten. Zudem gab es keine Fünf-Prozent-Klausel und die Interessenlage war sehr zersplittert: zwischen Anhängern der Monarchie, Republikanern und Kommunisten lagen Welten. Es gab keine Volksparteien im heutigen Sinne, sondern es waren teilweise noch sehr nach sozialen Klassen oder konfessionellen Aspekten sich orientierende Parteien, wie z. B. die Sozialdemokratie für die Arbeiterklasse (SPD), die Zentrumspartei für die Katholiken usw., das heißt, wir hatten ein sehr ausdifferenziertes Parteiensystem, und entsprechend kamen immer nur Koalitionsregierungen zustande.
Das, was wir jetzt in der Bundesregierung haben, also drei Parteien in einer Koalitionsregierung, empfinden wir als ungewöhnlich. In der Weimarer Republik war das der Normalfall, und es gab Regierungen, die aus noch mehr Parteien bestanden. Man war immer auf Koalitionsbildungen angewiesen, um parlamentarische Mehrheiten zu organisieren.
Die sogenannte Weimarer Koalition aus Sozialdemokratie, Zentrum und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die 1919 begann, hat auch nicht lange bestanden. Das machte die politische Situation sehr unbeständig, und deswegen gab es häufige Regierungswechsel.
Stresemann selbst gehörte nicht einmal zu einer der größeren Parteien, sondern zur nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), die nie mehr als 15 Prozent der Stimmen für den Reichstag erreichte. Er war Parteimitgründer 1918, Parteivorsitzender und die entscheidende Figur in der Partei bis zu seinem Tod. Nachdem er sich Anfang der 1920er Jahre einen hohen politischen Ruf erworben hatte, brachte man ihn schon früh als Reichskanzler ins Spiel. Nachdem andere Kabinette vor ihm gescheitert waren, gab Reichspräsident Friedrich Ebert ihm dann im August 1923 die Chance.
Trotz der kurzen Amtszeit von etwas mehr als 100 Tagen konnte er einige Erfolge verbuchen? Welche?
Grothe: Das Jahr 1923 war ein turbulentes Krisenjahr. Diese Krisen zu bewältigen, ist ihm sehr vernünftig gelungen. Ohne zu übertreiben, hat er sich wirklich Verdienste erworben. Ihm ist durch eine Währungsreform gelungen, die Währung wieder zu stabilisieren und die Inflation einzudämmen. Es sind ja sozial unhaltbare Zustände gewesen, dass man mehrere hundert Milliarden Papiermark aufwenden musste, um ein Brot zu kaufen. Und diese Inflationsgeldscheine, die ja heute noch bei Sammlern kursieren, sind zwar optisch sehr eindrucksvoll, haben aber auch einen Inflationsschock in der deutschen Bevölkerung ausgelöst, dass man noch lange sagte: Solche Zustände wollen wir nie wieder erleben! Auch in der Nachkriegszeit nach 1945 hat man lange Befürchtungen gehabt, dass sich das wiederholen könnte.
Stresemann hat außerdem dafür gesorgt, dass der passive Widerstand („Ruhrkampf“) aufgegeben und das Ruhrgebiet, das von den Franzosen besetzt war, um Reparationsleistungen zu erzwingen, 1925 wieder geräumt wurde. Und drittens war die Republik politisch sowohl von rechts als auch von links bedroht. Es gab Regierungsbeteiligungen von Kommunisten in Thüringen und in Sachsen. Hier gelang es Stresemann, mit Hilfe einer Reichsexekution die kommunistische Bedrohung der Republik wieder zurückzudrängen. In Bayern wiederum, damals ein Sonderfall in der Republik, mit starken rechtsextremen Bestrebungen selbst in der Landesregierung, kam es am 9. November mit dem Putsch Hitlers und Ludendorffs und dem Marsch auf die Feldherrnhalle sowie mit dem geplanten Marsch auf Berlin zum Höhepunkt. Auch diese Situation konnte er durch den Einsatz von bayerischen Truppen und Reichswehr retten.
Durch sein Mitwirken wurde z.B. das Deutsche Reich in den Völkerbund aufgenommen. Wie hat er dazu beigetragen?
Grothe: Vor allem durch großes Verhandlungsgeschick! Außenpolitik hatte Stresemann schon immer interessiert, und wie sich dann herausstellte, war er ein gewiefter außenpolitischer Taktiker. 1923 wurde er Reichskanzler und Außenminister, und er hat sich das Außenressort auch nach Ende seiner Kanzlerschaft weiter vorbehalten, weil er merkte, dass es ihm lag. So blieb er Außenminister bis zu seinem Tod 1929. Man hat sogar davon gesprochen, dass er bis 1929 der heimliche Reichskanzler gewesen sei.
Stresemann wurde sowohl im Inland als auch im Ausland allgemein anerkannt; im Inland hatte er allerdings auch mächtige Gegner vor allem im rechten Spektrum. Er hatte es zum einen geschafft, Deutschland wieder als Mitglied in die Völkergemeinschaft weitgehend zu integrieren, indem er mit den Westmächten verhandelte (Vertrag von Locarno 1925) und eine Verständigung mit Frankreich erreichte. Besonders mit dem französischen Außenminister Aristide Briand verstand er sich im Gegensatz zu anderen Ministern Frankreichs, besonders gut. Die Vorbehalte in Frankreich gegenüber Deutschland waren nach dem Ersten Weltkrieg sehr groß.
Zum anderen hat Stresemann mit seiner Verständigungspolitik eine Linie fortgesetzt, die vor ihm schon der linksliberale Walther Rathenau mit dem deutsch-russischen Vertrag von Rapallo 1922 begonnen hatte. Denn Stresemann ergänzte diesen Vertrag durch den Berliner Vertrag von 1926 mit Sowjetrussland. Durch diese beiderseitige Verständigung mit West und Ost gelang es ihm, Deutschland wieder in die Völkergemeinschaft zu integrieren. Deutschland erhielt im Völkerbund einen ständigen Sitz. Das war acht Jahre nach Kriegsende ein enormer Erfolg der deutschen Politik, wahrscheinlich der größte außenpolitische Erfolg Stresemanns – bei allerdings großen Vorbehalten in Deutschland selbst.
1926 erhielt er den Friedensnobelpreis. Wofür?
Grothe: Vertrauensbildende Maßnahmen waren nach Kriegsende unglaublich wichtig. Durch die Aussöhnung mit Frankreich, dem erbittertsten Kriegsgegner im Ersten Weltkrieg, hatte sich Stresemann einen international hervorragenden Ruf erworben. So kam es zu der Verleihung des Friedensnobelpreises, den ja bis heute nur vier Deutsche erhalten haben – in der Weimarer Zeit neben Stresemann der linksliberale Publizist und Politiker Ludwig Quidde.
Mit Stresemanns Tod 1929 endet auch die Ära der Weimarer Republik. Kann man das so sagen?
Grothe: Das ist sicherlich sehr verkürzt. Es ist auffällig, dass Stresemann im Oktober 1929 stirbt und drei Wochen später der Börsencrash in New York stattfindet. Das ist zwar eine zeitliche, aber zufällige Koinzidenz. Im Gegensatz zum Börsencrash, mit dem man nicht gerechnet hatte, war Stresemann schon länger gesundheitlich angeschlagen. Er war schon lange Jahre krank und die enormen Belastungen haben sicher nicht zu seiner Gesundung beigetragen. Er musste sich zwischenzeitlich wochenlang aus der Politik zurückziehen, so dass sein plötzlicher Tod nicht völlig überraschend kam. Dass damit das Ende der Republik eingeläutet wurde, ist etwas zu weit vorgegriffen. Der Börsencrash war weltweit ein großer Einschnitt, und die Entwicklung in Deutschland vor allem mit den Präsidialkabinetten nach 1930, war für die Weimarer Republik eine enorme Bedrohungssituation.
Als Historiker muss man aber versuchen, die Geschichte mit den Augen der Zeitgenossen zu sehen, d.h. der Zeitgenosse von 1929 wusste nicht, was 1933 passieren würde, und das war auch nicht so eindeutig voraussehbar. Denn selbst im Januar 1933 gab es Entscheidungsfreiheit genug, auch für den Reichspräsidenten Hindenburg, Hitler nicht zu ernennen. Die Situation wäre sicher schwierig geworden, aber es war nicht unausweichlich, Hitler als Reichskanzler zu berufen. Alternativen sind in der Geschichte immer denkbar, und das gilt auch für das Jahr 1933.
Stresemann hat sich in der Weimarer Republik zum Vernunftrepublikaner entwickelt, zu jemandem, der im tiefsten Herzen vielleicht noch der Monarchie verbunden blieb, der aber sah, dass man sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren und mehr noch, sie auch befördern müsse. Er war Realist und Pragmatiker genug, um zu erkennen, dass man sich im neuen Staat zum Republikaner und Demokraten entwickeln müsse. Im Hinblick auf 1933 lohnt ein Blick zurück auf Stresemanns Kanzlerschaft zehn Jahre zuvor: Die SPD entzog auf dem Höhepunkt der innenpolitischen Krise der Regierung Stresemann im November 1923 das Vertrauen. Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) kommentierte dies mit den nachdenklichen Worten: „Was Euch veranlasst, den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen Eurer Dummheit werdet Ihr noch zehn Jahre lang spüren.“
Prof. Dr. Ewald Grothe studierte Geschichtswissenschaften, Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte in Marburg. Er habilitierte sich 2003 in Wuppertal und lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität. Seit 2009 ist er außerplanmäßiger Professor. Seit 2011 leitet er das Archiv des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Gummersbach.