„ ‘Bambi’ war nie als Kinderbuch gedacht“

Prof. Dr. Wolfgang Lukas über Felix Saltens Roman, der durch die gleichnamige Disneyverfilmung weltberühmt wurde

VON UWE BLASS

Vor 100 Jahren veröffentlichte die Zeitung Neue Freie Presse die Geschichte über ein Rehkitz von Felix Salten als Fortsetzungsroman. Die Rede ist von „Bambi“. Jeder kennt die Walt Disney-Verfilmung, wobei der Roman definitiv kein Kinderbuch ist. Warum nicht?

Lukas: Man muss sagen, dass ´Bambi` auch niemals als Kinderbuch gedacht war. Der Untertitel lautet ja „Tierroman“, und unter dieser Rubrik wurde es seinerzeit auch im Börsenblatt annonciert. Die Geschichte ist nicht nur die Geschichte eines Rehkitzes, sondern es geht von der Geburt bis knapp an den Tod. Allein das ist schon untypisch für Kinderliteratur. Außerdem müssen wir deutlich unterscheiden, reden wir vom Buch oder vom Film? Auch wenn wir über das Buch sprechen, haben wir natürlich primär immer den Film im Kopf. Die Gefahr ist dabei, dass man das Buch projektiv mit der Brille des gesehenen Filmes liest. Was hat also Disney gemacht?

Wer den Film gesehen hat, kann verstehen, warum er als Meisterwerk des Animationsfilmes gerühmt wird. Die Kampfszenen in Technicolor sind sensationell und umwerfend gemacht, aber Disney hat den Stoff auch verkitscht. Sie haben das Missverständnis einer Kindergeschichte nahegelegt, denn der Film beginnt schon mit einer Verniedlichung, die wir so im Buch nicht haben. Zudem muss man auch sagen, die Werte und Normen, also was man als kindgerecht empfindet, sind nicht statisch, sondern dem historischen Wandel unterworfen. Da hat sich bis in unsere Zeit massiv viel geändert. 

Wir sind heute in einer Epoche, in der wir hypersensibilisiert sind gegenüber Gewalt. Unsere Position ist, Gewalt hat in Kinderliteratur nichts zu suchen. Wir sind ja schon so weit zu sagen, die Grimm’schen Märchen sind nichts für Kinder. Das ist aber historisches Neuland. Das haben frühere Epochen niemals so gesehen. Heute gibt es auch schon Zensurmaßnahmen bei Kinderbuchklassikern, wo man versucht, Gewaltszenen zu mildern, weil man sie als nicht mehr zuträglich für Kinder empfindet. Das ist aber unsere Zeit, die das so definiert.

Bambis Romanvorbild ist ein österreichisches Hirschkalb aus den Donau-Auen bei Stockerau, 20 Kilometer nördlich von Wien, wo der Autor sein Jagdrevier hatte. Er selber sagt: „Ich wollte meine Leser von dem Irrtum befreien, die Natur sei ein sonniges Paradies.“ Es geht ihm um die Frage: Wem gehört der Wald? Kann er das beantworten?

Lukas: Die Frage nach dem Besitz des Waldes kann man vielleicht so beantworten, dass er den Tieren zeitweise gehört, solange der Mensch draußen ist. Die Tiere sind nicht alleinige Eigentümer des Waldes, weil der Mensch ihn jederzeit betreten kann. Das macht Salten klar. Ist der Mensch außerhalb des Waldes, kann es harmonische, idyllische Momente geben, aber die sind nie garantiert und gelten nicht für immer. Der Mensch kann jederzeit mit seinem zerstörerischen Potential eindringen. Man lebt also in einer ständigen Bedrohung.

Der korrekte Titel des Romans lautet: „Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“, die sich aber bei genauem Hinsehen als eine Metapher auf den ersten Weltkrieg entpuppt. Woran erkennt man das?

Lukas: Da wäre ich vorsichtig und kann mich dieser Interpretation nicht anschließen. Das kommt vielleicht durch den Film. Wenn man die Schlussszene anschaut; zuerst diese Hundemeute, die die Partnerin von Bambi bedroht und die er erfolgreich mit letzter Kraft verscheucht, gefolgt von diesem gigantischen, toll gemachten Waldbrand. 1942 hat man diesen Brand, der ja wirklich einem Weltenbrand ähnlich kommt, natürlich auf den Zweiten Weltkrieg bezogen. Also Disneys Version des Romans mit Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg. Aber, dass das Buch auf den Ersten Weltkrieg anspielt, das sehe ich nicht so. Es kommt zwar Gewalt darin vor, also Jäger dringen ein und töten, am Ende wird ein Wilderer offensichtlich vom Förster erschossen, aber das ist zu wenig spezifisch und anders, als Disney das gemacht hat. 

Morten Schultz – Hunting and wildlife – Dänemark CC BY 3.0

Ich denke, es ist eher eine desillusionierende Sicht auf die Menschen. Für mich liegt die Botschaft weniger im politischen Bereich als vielmehr im anthropologischen. Und zwar als eine Botschaft, die man heute kritisch sehen muss, ohne das Buch abzuwerten. Die Botschaft übermittelt ein extrem patriarchalisches Gesellschaftsbild. Sie transportiert eine überdeutliche Geschlechterhierarchie. Wir erleben die Welt im Wald aufgeteilt in zwei Räume, topographisch gibt es da den Graben, den Bambi erst im Erwachsenenalter überschreiten darf. Jenseits des Grabens wohnen die Männer, die die Könige oder Fürsten sind – einer davon ist am Ende tatsächlich Bambis Vater –, im anderen Bereich wohnen die Frauen und die Kinder. Salten hat hier schon eine ganz klare Trennung vollzogen. Sobald man als männliches Rehkitz erwachsen wird, verlässt man diesen Raum. Und er zeigt, dass sich der Held hier zweimal des Weiblichen entledigen muss, und beides wird als Akt der Befreiung und als Voraussetzung für die Mannwerdung geschildert. Bambi verliert die Mutter und später, als erwachsener Hirsch, verlässt er die Freundin Faline. „Sie konnte er haben, so oft er wollte“, heißt es dann im Buch, also Frauen hat man da einfach, die Männer bestimmen alles, sie sind selbstherrlich. Wir erleben hier aus der Sicht Bambis den faszinierenden Blick auf stolze Männlichkeit. Das Unnahbare, dieses Stolze, vor dem man Angst haben muss, das ist die Botschaft. Am Ende sagt Bambi sogar: „Ich muss allein sein.“ So sehr er Faline auch liebt, er kehrt nicht zu ihr zurück. 

Was wir hier geboten bekommen, ist eine desillusionierende, pessimistische und zugleich sehr patriarchalische Anthropologie. Die Existenz des solitären, ohne Familie als Anhang lebenden Mannes, das wird bei Disney vollkommen familienideologisch verkitscht, denn Bambi ist dann der brave Familienvater mit den Kleinen. Diese Verherrlichung des solitär lebenden Mannes, der sich vom Weiblichen befreien muss, damit er ‚Mann‘ werden kann, das hat sogar eine gewisse Nähe zum Faschismus.

Der amerikanische Zeichentrickfilm spielte über 47 Mio. Dollar ein. Unter den 100 Top Bösewichten/Filmschurken steht auf Platz 20 „Man“, der Bambis Mutter erschoss. Er liegt damit noch vor dem Terminator, Dracula oder Joker. 71 quälende Sekunden vergehen im Film, bis Bambis Vater bestätigt, was alle Zuschauer seit dem Fallen des Schusses befürchteten: „Your mother can’t be with you anymore …“ Diese Emotionalität ist aber auch im Buch zu spüren, oder?

Lukas: Jein, was im Buch emotional stark zu spüren ist, das ist die Bedrohung. Die Angst und die Erfahrung der Überwältigung. Natürlich hat das auch eine Gefühlskomponente. Aber in Bezug auf den Verlust der Mutter sage ich nein, denn das wird nur mit einem dürren Satz notiert. „Bambi sah seine Mutter niemals wieder“. Das war`s.

Salten hatte mit Billy Wilder in Wien bereits Drehbücher geschrieben und kam über ihn in Kontakt mit Walt Disney, dem der ständig klamme Autor die Rechte für knapp 1000 US-Dollar überließ. Obwohl man meist nur diesen einen Roman von ihm kennt, war Felix Salten europaweit ein bekannter Journalist und Theaterkritiker seiner Zeit, der bis zu seinem 42. Lebensjahr eigentlich ganz anders hieß. Was weiß man von ihm?

Felix Salten, ca. 1910, Fotografie von Ferdinand Schmutzer

Lukas: Man weiß schon sehr viel über ihn, obwohl es eine ausgewiesene Salten-Forschung immer noch nicht gibt. Die ist noch zu leisten. Das sieht man u.a. daran, dass ich in der zweiten Kindler-Auflage ein anderes Sterbedatum gefunden habe, nämlich 1947. Heute kann man bei Wikipedia nachlesen, dass er 1945 verstorben ist. Sein eigentlicher Name war Siegmund Salzman, aus einer ungarisch-jüdischen Familie, die relativ früh nach Wien gezogen ist. Er gehörte nicht zum Großbürgertum, so wie seine Kollegen Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler. Er hat die Schule abgebrochen und sich dann aber zum sehr begabten Feuilletonisten und Kritiker entwickelt. Er war auch für das Burgtheater tätig. In der beginnenden Epoche des Naturalismus und des ‚Jungen Wien‘ war er einer von denen, die dabei waren, vielleicht nicht in der ersten Liga, aber dennoch ein Autor, der noch zu entdecken ist. Er hat Zeitromane, Gesellschaftsromane geschrieben, die mit Vorliebe in der Wiener Aristokratie spielen. Er kannte auch Erzherzog Leopold und hatte dadurch auch Hintergrundwissen, dass er in seinen Geschichten verarbeitete, die in Wien gut ankamen. Er hat außerdem historische Novellen geschrieben, Essays zur Kulturgeschichte Österreichs oder auch Drehbücher für den Film.

Dass er auch ein Meister der erotischen Literatur war, hat man erst später herausgefunden. „Albertine“ ist eine Novelle, die in seinem Nachlass gefunden wurde. Der Schriftsteller Oswald Wiener sagt über einen anderen Roman, den man ihm zuschreibt, er sei „der wohl einzige deutsche pornographische Roman von Weltrang“. Um welches Werk handelt es sich dabei?

Lukas: Es handelt sich zweifellos um ´Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer Wienerischen Dirne` von 1906, den pornographischen Roman, der mit hoher Wahrscheinlichkeit von ihm stammt. Ich würde aber nicht sagen, dass das der einzige deutschsprachige Pornoroman von Weltrang ist, denn es gibt andere, wenn auch nicht viele. Pornographie ist zu einem gewissen Teil Schemaliteratur, d.h. hier gibt es erzählerische Versatzstücke, die typisch sind. Das beginnt in der Spätaufklärung, wo das Modell des Entwicklungsromans erfunden wird. Und diese pornographischen Entwicklungsromane setzen eigentlich immer mit der Geschlechtsreife mit 14, 15 oder 16 Jahren ein und erzählen dann unter Umständen bis ins höhere Alter. 

Das Besondere an Saltens Roman ist, dass er ab dem 7. Lebensjahr ansetzt und mit dem 14. Lebensjahr aufhört. Damit weicht er sehr stark ab vom traditionellen Pornoroman, und – ohne es zu bewerten – uns stößt das heute auf. Ich habe dazu einmal ein Seminar gemacht, also über erotische und pornographische Romane von der Aufklärung bis zu Felix Salten, wo wir studieren konnten, in welchem Ausmaß sich die Sexualnormen auch historisch gewandelt haben. Hier werden Dinge erzählt, die für uns skandalös sind, dass also ein sieben oder acht Jahre altes Mädchen Sex hat. Das ist Kinderpornographie, und die ist für uns sehr viel schockierender, als das für die damalige Zeit war. Damals kannte man Kinderbordelle auf dem Kudamm in Berlin, und in Wien gab es die auch. Das war sicher unbürgerliches Milieu, das ist ja logisch, aber es war nicht in der Weise tabuisiert, wie es heute ist, das muss man sich klarmachen. Das Problem dabei ist heute, dass wir Dinge, die fremdartig sind und unseren Normen zuwiderlaufen, nicht mehr wahrnehmen können bzw. wollen. Salten hat vielleicht auch Mut gehabt, denn er hat das damals so erlebt, er wusste, dass ist auch unsere soziale Realität um 1900, und dann hat er das thematisiert.

Bambi wurde in über 30 Sprachen übersetzt und auch als Fortsetzung unter dem Titel „Bambis Kinder: Eine Familie im Walde“ 1940 veröffentlicht. Konnte die Fortsetzung an den Anfangserfolg anknüpfen?

Lukas: Nein, das konnte sie definitiv nicht, man kennt diese Titel auch überhaupt nicht. Er hatte auch vorher schon Tierromane geschrieben und war auch in den 1920er Jahren damit erfolgreich. Aber wie gesagt, man weiß vieles noch nicht, das ist ein noch offenes Forschungsfeld. Viele Bücher sind auch später nie mehr aufgelegt worden, man braucht also die Erstauflagen. Interessant bei ´Bambi` ist die Tatsache, dass man eine neuere Taschenbuchausgabe im Antiquariat für drei Euro bekommt, für die Erstausgabe aber über 2000 Euro berappen muss. Daran sieht man auch den Kultstatus dieses Buches, welcher jedoch ohne den Film nicht denkbar wäre.


Wolfgang Lukas studierte Germanistik und Romanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte ebenda. Er habilitierte sich an der Universität Passau. Nach akademischen Zwischenstationen in Kiel und Zürich übernahm er 2006 den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Editionswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.

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